Spiegel-Gespräch mit Christian Wulff: Umstritten

Umstrittenes Lehrstück

Selten ärgern sich Journalisten so über ein Interview wie über das Spiegel-Gespräch mit Ex-Bundespräsident Christian Wulff in der Spiegel-Ausgabe 30 vom 21. Juli 2014. Zu Recht? Lesen Sie hier zwei kurze Kommentare zur den Kritiken des Medienjournalisten Stefan Niggemeier und der Berliner-Zeitung-Redakteurin Ulrike Simon

Von Mario Müller-Dofel*, im Juli 2014

Spiegel Gespräch - Stefan Niggemeier
Berliner Schloss Bellevue: Dienstsitz von Christian Wulff/CDU – bis er im Februar 2012 als Bundespräsident zurücktrat (Foto: Michael Gellner/Fotolia.com)

„Es ist schon kurios, wenn ein derart abgehangenes Interview wie das des Magazin Der Spiegel mit Christian Wulff behandelt wird, als sei es taufrisch“, leitet Ulrike Simon von der Berliner Zeitung ihre Reaktion auf das Wulff-Interview ein. Für sie stammte es „aus der Konserve“. Hintergrund: Die Spiegel-Interviewer hatten es offensichtlich bereits um den 10. Juni herum geführt. Veröffentlicht wurde das Spiegel-Gepsräch sechs Wochen später. Als Grund dafür sieht die BZ-Redakteurin einen Satz aus dem Video-Statement von Spiegel-Redakteur Peter Müller, einer der drei Wulff-Interviewer: Demnach „wusste niemand, ob das Gespräch jemals autorisiert werden würde“. (Anm.: Eine Verlinkung zum Interview fehlt, weil es am 27. Juli 2014 noch nicht im Internet veröffentlicht war.)

Mal abgesehen davon, ob dies wirklich der Grund war, stellt sich die Frage: Darf ein Medium ein Interview erst Wochen nach dem Gespräch veröffentlichen – oder ist es dann „abgehangen“, wie Ulrike Simon es über dieses Spiegel-Gespräch meint?

Zunächst zur Wortbedeutung: Das Wort „abhängen“ bezeichnet in der Fleischherstellung einen Schritt im Reifeprozess, durch den das Fleisch zarter und geschmackvoller wird. Allerdings schmeckt Simon das Wulff-Interview überhaupt nicht. (Nur nebenbei: Sie hat also ein falsches Sprachbild gewählt.)

Kommentar: Normale Vorgehensweise

Zurück zur Kernfrage: Selbstverständlich dürfen Journalisten ein Interview mit gutem Gewissen auch Wochen nach dem Gesprächstermin veröffentlichen. Denn die Aktualität eines Interviews hängt ja nicht an diesem Termin, sondern an der

• Aktualität des Inhalts zum Zeitpunkt der Veröffentlichung (Priorität 1) und der
• Exklusivität des Gesprächs/der Informationen zu diesem Zeitpunkt (Priorität 2).

Wie man das Spiegel-Gespräch mit Christian Wulff auch immer finden mag: Beide Kriterien hat der Spiegel erfüllt.

Es ist übrigens normal, dass Interviews – insbesondere in Magazinen – mit wochenlanger Zeitverzögerung erscheinen. Noch einmal: Das ist völlig legitim, wenn eine Redaktion sich das leisten kann, weil beispielsweise in der Zwischenzeit keine andere Publikation ein Interview mit demselben Gesprächspartner bekommt und/oder die Inhalte zum Zeitpunkt der Veröffentlichung immer noch aktuell sind.

Hinterfragtes Selbstverständnis

Der Medienjournalist Stefan Niggemeier hat in seiner Kritik zum Wulff-Interview einen ganz anderen Schwerpunkt gesetzt: Er interpretiert das Selbstverständnis des Spiegel anhand beispielhafter Passagen – und stellt es infrage. So zitiert er folgende Passage aus dem Einführungstext:

(Spiegel:) Neben den eigentlichen Vorwürfen, die Wulff, 55, schließlich das Amt kosteten, ging es von Anfang an auch um die Rolle der Presse, die ihn mit Recherchen zu seinem privaten Finanzverhalten in Schwierigkeiten brachte. Da diese Debatte ebenfalls über die Medien ausgetragen wurde, stellte sich für viele Beobachter die Frage nach derUnparteilichkeitder sogenannten vierten Gewalt: Wie unvoreingenommen können Journalisten noch berichten, wenn ihr eigenes Verhalten infrage gestellt wird? (Ende der Spiegel-Passage)

Niggemeier dazu: Was ist das denn für eine Frage? … Die Unvoreingenommenheit von Journalisten ist doch nicht dadurch bedroht, dass ihr Verhalten infrage gestellt wird. Der Vorwurf war — um das einmal kurz als Service für die „Spiegel“-Leute zu rekapitulieren — dass die Journalisten nicht unvoreingenommen waren und sind; dass sie sich auf eine gemeinsame Jagd auf Wulff begeben hätten und nicht eher Ruhe geben würden, bis das Wild erlegt war. Noch einmal: Der „Spiegel“ schreibt, dass es Journalisten womöglich schwerer fällt, unabhängig zu berichten, wenn ihr Verhalten in Frage gestellt wird? In welchem Paralleluniversum ergibt das Sinn? Und wieso weiß der „Spiegel“ nicht, dass die Arbeit von Journalisten ununterbrochen in Frage gestellt wird, und zwar: zu Recht?

Weiteres Beispiel:

SPIEGEL: Sie haben sehr viel Gewicht verloren.
Wulff: Ich bin damals regelrecht abgemagert, das war ungesund. Und wenn ich so wenig Einsicht bei Medienschaffenden sehe wie bei Ihnen in diesem Interview, brauche ich wohl noch ein paar zusätzliche Aufbaukurse.
SPIEGEL: Mit Verlaub, Herr Wulff, was haben Sie denn von uns erwartet? Einen Kniefall und eine Entschuldigung?

Niggemeier dazu: Puh. Sein Wort war „Einsicht“. Der „Spiegel“ hört: „Kniefall und Entschuldigung“.

Kommentar: Lesenswerte Reflexion

Niggemeiers Beitrag über das Spiegel-Gespräch ist lesenswert, weil er etwas zeigt, wie verhärtet die Fronten zwischen Journalisten und ihren Gesprächspartnern sein können – und wie sich das aus einzelnen Worten herauslesen lässt. Es wäre schön, wenn die Journalisten unter den Lesern des Niggemeier-Textes auch hinterfragen würden, ob sie tatsächlich „unvoreingenommen“ interviewen oder berichten können. Denn das kann nur ein Trugschluss sein, spätestens wenn eigene Meinungen in Gespräche und Texte einfließen.

* Mario Müller-Dofel ist Mitinitiator des Wissensportals „Alles über Interviews“.