Frageformen: Was sie für die Fragestrategien bedeuten
Raus aus der Komfortzone, rein in die Konfrontation?
Johannes Prokopetz vom Bayerischen Fernsehen hat mal in der Internetzeitschrift Message wertvolle Anregungen zu Frageformen und Fragestrategien in Interviews gegeben. Hier eine Zusammenfassung seines Textes zur schnellen Anwendung in der journalistischen Praxis.
Von Mario Müller-Dofel*
Warum hat Johannes Prokopetz sich mit Frageformen und Fragestrategien befasst?
Er sagt, dass es in Bezug auf Interviewfragen keine verbreitete Systematik gibt, die Praxisorientierung bietet. Dies falle vor allem in der journalistischen Aus- und Weiterbildung auf, wo „journalistisches Fragen vor allem am Gegensatz offene vs. geschlossene Fragen und ansonsten ‚aus dem Gefühl heraus‘ und ohne klare Strategie“ vermittelt wird. Und natürlich gebe es mehr Frageformen.
Werden in der Aus- und Weiterbildung Interviews ohne klare Interviewstrategie vermittelt?
Kommentar Müller-Dofel: Um dies zu beurteilen, bräuchte man die Lehrinhalte aller Anbieter. Wir vermitteln klare Strategien, die sich – wie Prokopetz‘ Anregungen – am Verhalten der Befragten ausrichten. Dennoch ist sein Systematisierungsansatz für unsere Seminare wertvoll.
Welchen Grundgedanken hat Prokopetz?
Seine Grundsatzfrage lautet: „Was machen Interviewfragen mit dem Befragten?“. Er setzt voraus, dass Interviewer immer das Interesse des Publikums an nicht oder nur selten Offenbartem vertreten. Dagegen, so Prokopetz, versuchen Antwortende ihre Offenbarungen zu dosieren, was bei ihnen Stress auslöst. Diese gegensätzlichen Interessen sieht er in allen Interviews – von investigativen bis zu bunten, harmlosen. Alle Interviews sind demnach bestimmt davon, wie stark Interviewer ihre Gesprächspartner mit Fragen bedrängen und wie sehr sie Interviewte unter Stress setzen, weil diese einen Kontrollverlust fürchten.
Welchen Effekt hat dieser Stress bei Interviewten?
Sie werden alarmiert, wie Prokopetz es nennt: minimal bei harmlos erscheinenden Interviewfragen und heftig bei konfrontativen Interviewfragen. Immer würden Fragen neue emotionale Situationen schaffen. Fühlt sich der Interviewte mit der Frage bestätigt, relevant, bewundert? Oder fühlt er sich bedrängt, angegriffen, verachtet? Meint er, den Interviewer mit seiner Antwort enttäuscht oder zufriedengestellt zu haben? Und wie empfindet er daraufhin seine Beziehung zum Interviewer? Viel hängt von den Frageformen ab.
Es geht also vor allem um Frageinhalte?
Falsch, sagt Prokopetz. Die Wirkung von Interviewfragen werde noch mehr von Gestik, Mimik, Tonfall, Lautstärke und Kontext beeinflusst. Sind diese Faktoren hochgradig bedrängend, wirken auch harmlose Fragen bedrängend. Dagegen könne eine von der wörtlichen Formulierung her konfrontativ anmutende Frage in einem Kontext der Harmlosigkeit durchaus nur minimal alarmieren.
Wie systematisiert Prokopetz die Interviewfragen von Journalisten?
Er unterteilt sie in vier am Stresslevel ausgerichtete Frageformen – wie folgt:
1. Komfortfragen
Ziel: Entspannung und Konsensbestätigung. Sie signalisieren, dass die Interessen des Befragten nicht verletzt werden und er keinen Kontrollverlust fürchten muss.
Wirkung: kein Stress beim Interviewten
Wo: besonders häufig in Aufwärmphasen sowie im Unterhaltungs-, im Heimat- und im Tendenzjournalismus
Beispiele für entsprechende Frageformen:
- Aufwärmfragen („Sind Sie auch in diesen Stau am Hauptbahnhof geraten?“)
- Bestätigungs- und Kuschelfragen („Was war in Ihrem bisherigen Berufsleben der schönste Tag?“)
- Erlebnisfragen („Wenn wie jetzt der Frühling kommt, blüh’ ich selber immer auf, wie geht’s Ihnen da?“)
- Allerweltsfragen („Jedes Jahr vergeht die Zeit schneller, nicht wahr?“)
2. Animationsfragen
Ziel: Den Befragten fordern – nicht ganz harmlos, aber immer noch angenehm
Wirkung: geringer Stresspegel beim Interviewten, ein eventueller Kontrollverlust erscheint für ihn akzeptabel
Wo: verbreitet im journalistischen Alltag, in weiten Bereichen der Fachpresse, Lokalpresse, Service-Medien etc., also überall dort, wo weitergehende Informationen, Schilderungen und Geschichten gebraucht werden, aber aus Sicht des Befragten keinerlei investigative oder schuldbezogene Dimensionen in den Blick geraten
Beispiele für entsprechende Frageformen:
- Direkte Aufforderungen („Sie waren im Zug, als der Unfall passierte. Erzählen Sie doch einfach mal, was sich aus Ihrer Perspektive abgespielt hat.“ bzw. „Was hat sich abgespielt?“)
Verständnis- oder Konkretisierungsfragen („Das heißt: Sie verbringen jeden Nachmittag mehrere Stunden auf dem Kinderspielplatz?“) - Motivationsfragen („Wenn Sie Menschen beim Sterben begleiten, worum geht’s Ihnen da?“)
- Meinungsfragen („Was halten Sie von gleichgeschlechtlichen Eheschließungen?“)
- Introspektionsfragen („Wie geht es Ihnen, wenn Sie an die Scheidung Ihrer Eltern zurückdenken?“)
- „Fragen aus dem Gegenteil“, weil sie – meist kurz vor der Alarmierung angesiedelt – besonders dynamische Antworten initiieren: Der Fragende stellt eine scheinbare Konsensfrage, bei welcher der vorgebliche Konsens für den Befragten unakzeptabel ist („Sie haben so treue Fans, da macht es sicher nichts, wenn in dieser Arie das hohe ‚C’ mal nicht kommt?“)
3. Alarmfragen
Ziel: Den Befragten überraschend unter Stress setzen
Wirkung: fordert den Befragten auf für ihn beunruhigende/unbequeme Weise, Alarmfragen aktivieren eventuell Misstrauen, der Befragte befürchtet einen Kontrollverlust und sieht seine Interessen bedroht
Beispiele für entsprechende Frageformen:
- Warum-Fragen, die leicht etwas von einem Verhör haben und den Ton in einem Interview plötzlich verschärfen und den Befragten in eine leichte Abwehrhaltung drängen können
- Unterstellende Fragen („Sie beschreiben auf Ihrer Website nur die Anreise mit dem PKW. Was haben Sie eigentlich gegen die Bahn?“)
- Hypothetische Fragen („Angenommen, die Verluste sind doch größer. Drohen dann Entlassungen?“)
- Definitions- und Festlegungsfragen („Habe ich Sie da richtig verstanden: Sie sagen, Sie sind noch nie in Lichtenstein gewesen?“)
- Interaktionsfragen („Ich habe den Eindruck, dass meine letzten Fragen Sie gereizt gemacht haben. Was ärgert Sie?“)
- Fragen durch die Hintertür, um eine Frage indirekt anzusprechen, die der Fragende nicht zu stellen versprochen hat (z. B. zur Scheidung des Befragten: „Wie ist das, wenn man eine große Liebe verliert?“)
- Indizienfragen als eine Reihe von aufeinander abgestimmten Fragen, mit denen der Interviewer ein dem Befragten zunächst unbekanntes Ziel verfolgt („Lieben Sie Kinder? … Wissen Sie, wie viele davon an Altersdiabetes erkranken werden? … Bekommen Sie da kein schlechtes Gewissen, wenn Sie ein Fast-Food-Restaurant betreiben?“)
4. Konfrontationsfragen
Ziel: Provokation, Konfrontation, hohen Druck auf den Befragten ausüben
Wirkung: höchste Stufe der Alarmierung für den Befragten, Konfrontationsfragen signalisieren den Beginn oder den Fortgang einer Konfrontation, Angriffe und klare Bedrohung der Eigeninteressen setzen den Interviewpartner maximal unter Stress
Wo: bei oft von vornherein geplanten konfrontativen Settings wie in Spiegel-Interviews und Studio-Friedmann-Sendungen, letzter Teil von längeren eher von Animierfragen geprägten Interviews (damit ein möglicher Abbruch durch den Interviewten nicht die gesamte journalistische Vorarbeit bedroht)
Beispiele für entsprechende Frageformen:
- Provokationsfragen („Kritische Stimmen aus Ihrem Unternehmen sagen, es gab zu wenig Innovationen seit Sie den Konzern führen. Was sagen Sie dazu?“)
- Suggestivfragen („Ist es nicht so, dass bei Ihren Heilpflanzen Über- oder Unterdosierungen die Regel sind, da Sie nie wissen, wie viel Wirkstoff nun in der gerade gepflückten Pflanze steckt?“)
- Konfrontierende Feststellungen („Trotzdem sind in den letzten zwei Jahren zehn Kritiker Ihrer Regierung unter ungeklärten Umständen zu Tode gekommen.“)
- Direkt konfrontierende Fragen („Herr Clinton, hatten Sie Sex mit Frau Monika Lewinsky?“)
Emotionale Frage-Dramaturgie planen
Johannes Prokopetz legt Wert darauf, dass „ohne den Gegenüber einer gewissen Bedrängung auszusetzen, relevanter Journalismus undenkbar ist.“ Andererseits bestehe die Gefahr, die Beziehung zu Gesprächspartnern zu schädigen. Deshalb sei die emotionale Dramaturgie, die Steuerung des Gesprächs zwischen Komfort und Alarmierung, besonders wichtig.
Um sie zu planen, empfiehlt er Journalisten, sich in der Interviewvorbereitung Fragen wie diese zu beantworten:
- Welchen Grad an Vertrauen möchte ich anfangs herstellen und welche Fragen brauche ich dazu?
- Wie wichtig ist es, dass mich der Interviewpartner ernst nimmt und welche Fragen muss ich ihm stellen, um dies zu erreichen?
- Wie gehe ich mit Irritationen um, die seine Antworten für mich darstellen: Spreche ich die sofort an (weil ich sie für eine Fernseh-Reportage z. B. sinnvoll nur in der Situation stellen kann, in der sie auftauchen) oder erst wenn ich die wichtigsten anderen Fragen gestellt habe und einen Abbruch riskieren kann?
- Ist der andere vielleicht ein Medienprofi und tue ich gut daran, seine Erwartungen zu konterkarieren, indem ich z. B. zwischen Konfrontations- und Komfortfragen hin und her springe?
Der letzte Satz seines Beitrags ist eine grundlegende Empfehlung: „Die riskantere Frage bedingt die intensivere Antwort und liefert damit, was sich Journalist und Publikum letztlich erhoffen: Interessantes, Überraschendes und Authentisches.“
Hier geht’s nochmal zum vollständigen Text von Johannes Prokopetz.
Johannes Prokopetz, geboren 1962 in Berlin, arbeitet als Mediator und beim Bayerischen Fernsehen als Redakteur und Programmentwickler. Früher zuständig für die Kulturmagazine des BR, derzeit verantwortlich für die Filmbeiträge des Nachmittag-Formates „Wir in Bayern“.
* Mario Müller-Dofel ist Mitinitiator des Wissensportals „Alles über Interviews“.