Interviews mit Minderjährigen? Irion ist irritiert
Der besondere Schutz von Minderjährigen ist gesetzlich verankert
Worauf müssen Interviewer aus juristischer Sicht achten, wenn sie Interviews mit Minderjährigen führen? Dies fragte uns kürzlich eine „Alles über Interviews“-Leserin. Die renommierte Medienrechtlerin Tanja Irion antwortet. Aktuell ist das Thema gerade wieder, da NDR, WDR und Süddeutsche Zeitung die 16-jährige IS-Anhängerin Linda W. aus Sachsen in irakischer Haft über ihre Zeit beim “Islamischen Staat” interviewten.
Im Juli 2017
Im Fall Linda W. kann Tanja Irion derzeit keine journalistischen Mängel erkennen, zumal sie ihn erst aus wenigen Medienberichten kennt. Wer sie allerdings auf Fälle wie Marco W. (2007) und Interviews mit Minderjährigen nach dem Amoklauf in Erfurt (2002) anspricht, sieht sofort:
Irion ist irritiert
Aber warum eigentlich? Sie sagt, dass sich Interviewer nicht immer an das Gesetz und den Pressekodex halten. Und welche Pflichten haben Interviewer, wenn sie Minderjährige interviewen?
Dazu schreibt Tanja Irion:
„Für Interviewer, die Interviews mit Minderjährigen führen, gelten zunächst einmal die gleichen Regeln und rechtlichen Rahmenbedingungen wie bei Gesprächen mit Volljährigen. Allerdings stuft das deutsche Recht Minderjährige als besonders schutzwürdig ein. Deshalb sind bei Interviews mit Minderjährigen einige zusätzliche Dinge zu beachten.
Weshalb Minderjährige in Interviewsituationen besonders geschützt sein müssen, wird an folgenden zwei Fällen deutlich:
Johannes B. Kerner nach dem Amoklauf in Erfurt
Nach dem Amoklauf an einer Erfurter Schule im April 2002 interviewte der Journalist Johannes B. Kerner noch am gleichen Abend einen 11-jährigen Schüler zu dem Geschehen. Seine Mutter hatte dem Interview zugestimmt. Dennoch wurde Johannes B. Kerner nach seinem Interview stark dafür kritisiert, dass er einen so jungen Augenzeugen so kurz nach dem Amoklauf befragte. Zu diesem Zeitpunkt hätte der Junge wohl eher psychologischen Beistand benötigt. Überhaupt standen die Medien wegen ihrer Berichterstattung stark in der Kritik.
Interviews mit Marco W. in deutschen Zeitungen
Fünf Jahre später ereignete sich der „Fall Marco W.“. Im April 2007 war der damals 17-Jährige im Urlaub in der Türkei festgenommen worden, weil er angeblich eine 13-jährige Britin sexuell missbraucht hatte. Reporter einer türkischen Zeitung besuchten Marco während seiner Untersuchungshaft und interviewten ihn.
„Nach Angaben der Mutter wäre eine etwaige Anfrage abgelehnt worden.“
Das Interviewmaterial leiteten sie an einige deutsche Medien weiter, die das Interview ebenfalls veröffentlichten. Das Problem dabei: Weder Marcos Eltern, noch seine Anwälte waren von den Reportern um ihre Einwilligung gebeten, geschweige denn informiert worden. Nach Angaben der Mutter wäre eine etwaige Anfrage abgelehnt worden. Es stand die Befürchtung im Raum, dass das Interview den Prozess negativ beeinflussen könnte.
Nicht voll wirksame Interviewverträge
Als unter 18-Jährige waren sowohl der Erfurter Amok-Zeuge als auch Marco W. nach dem BGB zum Zeitpunkt des jeweiligen Interviews minderjährig. Damit gelten für sie die speziellen Schutzvorschriften. So wie Minderjährige gar nicht oder lediglich eingeschränkt Verträge schließen können, so können sie auch nicht voll wirksam einen Interviewvertrag eingehen.
Fehlende Weitsicht für etwaige Konsequenzen
Der Hauptgrund für den besonderen Schutz gerade in Interviewsituationen ist, dass Minderjährigen oftmals die Weitsicht dafür fehlt, wie ihre Äußerungen interpretiert werden und welche Auswirkungen ihre Worte haben können. Wer heute als 10-Jähriger ein Interview gibt, distanziert sich möglicherweise als 15-Jähriger davon. Während der Gesetzgeber volljährigen Interviewpartnern genügend Reife und Verantwortungsbewusstsein für ihr Handeln unterstellt, hält er bei Minderjährigen eine gewisse Bevormundung für angebracht.
„Kinder und Jugendliche sind weitaus leichter zu beeinflussen als Erwachsene.“
Die deutsche Verfassung gewährt zwar jedem Menschen ein Selbstbestimmungsrecht. Dieses Recht kann aber nur dann seinen Zweck erfüllen, wenn der Ausübende auch mental in der Lage ist, es für sich zu nutzen. Und diese Frage hängt auch mit dem Alter zusammen. Kinder und Jugendliche sind schließlich weitaus leichter zu beeinflussen als Erwachsene, und altersbedingt noch nicht so reflektiert wie es Erwachsenen zugetraut wird. Vom Interviewer als (typischerweise) volljährigen Gesprächsbeteiligten wird deshalb ein besonders hohes Maß an Sorgfalt und Verantwortungsbewusstsein erfordert.
Klare Worte im Pressekodex
Dementsprechend heißt es auch im Pressekodex, Ziffer 4.2 („Recherche bei schutzbedürftigen Personen“): „Bei der Recherche gegenüber schutzbedürftigen Personen ist besondere Zurückhaltung geboten. Dies betrifft vor allem Menschen, die sich nicht im Vollbesitz ihrer geistigen oder körperlichen Kräfte befinden oder einer seelischen Extremsituation ausgesetzt sind, aber auch Kinder und Jugendliche. Die eingeschränkte Willenskraft oder die besondere Lage solcher Personen darf nicht gezielt zur Informationsbeschaffung ausgenutzt werden.“
Einwilligung auch von Erziehungsberechtigten einholen
Wer Interviews mit Minderjährigen führt, sollte deshalb nicht nur die Zustimmung der Minderjährigen einholen, sondern auch die der Erziehungsberechtigten – zu Beweiszwecken am besten schriftlich. Auch müssen sie die sorgerechtliche Situation abfragen (darf ein Elternteil alleine entscheiden oder nicht?). Die Einwilligungen sollten sich auf das Führen der Interviews an sich und auf die weiteren Modalitäten – wie den Mitschnitt oder die Veröffentlichung der Aufnahme – beziehen. Schlussendlich sollten Interviewer minderjährige Interviewpartner zwar ernst nehmen, ihre Aussagen und deren mögliche Tragweite aber immer vor dem Hintergrund ihres jungen Alters betrachten.“
Tanja Irion, geboren 1967, ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Urheber- und Medienrecht in eigener Kanzlei in Hamburg. Sie studierte Rechtswissenschaft in Hamburg. Danach war sie Referentin beim Landesbeauftragten für den Datenschutz in Mecklenburg-Vorpommern und Rechtsreferendarin in Schleswig Holstein. Fünf Jahre lang amtierte sie als Bundesvorsitzende des Forums Junge Anwaltschaft (DAV). Ihre Kanzlei in Hamburg gründete sie im Jahr 2000.
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