Steffen Range: Autorisierungspraxis ist ganz vernünftig

„Plastikwörter sind schlimme Quellen der Unbill“

Steffen Range, Chefredakteur der Deutschen Handwerks Zeitung, im Interview über Interviews. Es geht um Kauderwelsch, Liebedienerei, Voraussetzungsfreiheit, ein krachendes „Scheiße! Neu!“ auf dem Interviewausdruck und Gutes an der Autorisierungspraxis.

Von Mario Müller-Dofel*Steffen Range - Interview autorisieren

Steffen Range: „Junge Journalisten mehr anleiten“ (Foto: Roland Rasemann)
Range, soviel vorab, ist ein Gesprächspartner wie ihn ein Interviewer sich wünscht: gut gelaunt, kräftige Telefonstimme, gewählte Sprache und pointiert. Range ist Klartexter. Das war er schon, bevor er leitende Redakteurspositionen übernahm. Seither kennen er und sein Interviewer sich. Duzen ist deshalb okay.

Mario Müller-Dofel: Steffen, wie viele Interviews hast Du in Deinem Journalistenleben bislang geführt, verschriftlicht und redigiert?

Steffen Range: Puh. (Überlegt) Wahrscheinlich habe ich im Schnitt fünf größere Interviews pro Monat redigiert – macht etwa 800 Interviews in 15 Berufsjahren. Hinzu kommen die eigenen Interviews. Also alles in allem wahrscheinlich weit über 1000.

Was verstehst Du unter „größeren“ Interviews?

Interviews mit sechs, sieben Fragen aufwärts. „Drei Fragen an …“- und „Nachgefragt“-Formate sind für mich keine richtigen Interviews, weil sich da kaum echte Gespräche entwickeln.

Die Länge hat nicht unbedingt etwas mit der Qualität zu tun. Was ist für Dich ein guter Interviewtext?

Einer, der noch Elemente der gesprochenen Sprache und Eigenheiten des Gesprächspartners erkennen lässt. Die verschriftlichte Sprache darf nicht gestanzt und formatiert sein. Zudem überrascht ein gutes Interview. Und letzteres passiert eben nicht, wenn sich der Chef der Polizeigewerkschaft lediglich mehr Polizisten wünscht oder ein Wirtschaftsboss bessere Standortbedingungen in Deutschland anmahnt. Besteht ein Interview nur aus erwartbaren Fragen und Antworten, ist es langweilig.

Es ist doch unrealistisch, dass Journalisten ihren Interviewpartnern nur Überraschendes entlocken.

So meine ich es nicht. Wenn ein Interview zwei, drei spannende Aussagen enthält, bei denen der Leser denkt: „Aha, das hätte ich nicht gedacht“ und der Journalist auf diese Aspekte eingeht, hat das Interview seinen Zweck erfüllt.

„Wir wissen alle, dass Botschaften der Interviewten ein Teil des Deals sind.“

Wie sollten Interviewer mit erwartbaren Antworten umgehen?

Wir wissen alle, dass die ein Teil des Deals sind – vor allem bei größeren Interviews mit besonderen Gesprächspartnern. Die Befragten lassen etwas Interessantes heraus, vielleicht sogar einen Scoop, und wollen dafür auch Botschaften senden, die ihnen wichtig sind. Die sind ja nicht altruistisch. Ich halte ein gewisses Maß an Erklärungen und Botschaften von Interviewten für akzeptabel. Mitdenkende Leser können diese Aussagen einordnen.

Wenn Du als Ressortleiter Interviews von anderen Journalisten redigierst – welche besonders häufigen Fehler kommen Dir dabei unter?

Plastikwörter zum Beispiel! Diese Plastikwörter!

Was sind Plastikwörter?

So nenne ich amorphe Begriffe wie „System“, „Prozess“, Struktur“ und so weiter. Die sind schlimme Quellen der Unbill, weil sie insbesondere Wirtschaftsinterviews unverständlich und inhaltsarm machen. Was soll der Ottonormalverbraucher mit einem Satz wie „Wir müssen ein neues System aufsetzen“ anfangen?

Wie gehst Du mit solchen Sätzen um?

Zuerst weise ich den Interviewer darauf hin, dass er dagegen vorgehen muss. Er muss solche Plastikwörter aufdröseln. Durch nachtelefonieren. Oder besser gleich nachhaken.

Mach’s mal vor.

Man könnte fragen: „Welches ‚System‘ meinen Sie? Und was konkret verstehen Sie unter ‚aufsetzen‘?“ Die meisten Interviewpartner lassen sich auf solche Fragen ein. Kürzlich habe ich ein schönes Interview über Farming 4.0. auf den Schreibtisch bekommen …

Was meinst Du mit Farming 4.0.?

Das hätte ich Dir auch ohne Nachfrage gesagt. Damit ist die digitale Vernetzung in der Landwirtschaft gemeint. In dem Interview sagte der Befragte Sätze wie „Heute finden Innovationen vor allem in der Erntekette statt.“ Daraufhin fragte die Journalistin tiefer nach und bekam konkret zu hören, wo und wie sich die Landwirtschaft gerade verändert: dass Kühe einen Chip eingepflanzt bekommen, der Körperdaten misst und Krankheiten signalisiert, dass bei modernen Maschinen Dünger nur an die Stellen auf dem Acker kommt, wo Nährstoffe fehlen, dass Mähdrescher mit Satellitenortung arbeiten. Sehr interessant …

Nachhaken kostet Zeit. Was macht der Journalist, wenn sie knapp ist?

Dann kann er erklärbedürftige Antworten erstmal so stehen lassen und sie später – bei der Verschriftlichung und Autorisierung – mit dem Gesprächspartner oder dessen Pressesprecher verbessern. Das geht auch im Nachhinein am Telefon.

Welche Mängel fallen Dir außer den „Plastikwörtern“ auf?

In Wirtschaftsinterviews auch der Hang zu Konzernverlautbarungen, Marketingphrasen, Werbefloskeln und Superlativen – also zur Schönfärberei.

„Und wenn die oft überlasteten Journalisten auch noch schlecht vorbereitet sind, setzen sich die Schönfärber durch.“

Die gab‘s immer schon.

Na und? Müssen wir sie deshalb unkritisch durchgehen lassen? Außerdem ist sie nach meiner Beobachtung schlimmer geworden, weil selbst kleinere Unternehmen im PR-Bereich aufgerüstet haben. Da sitzen viel mehr Leute als früher auf der anderen Seite des Interviewtisches, die aufpassen, dass ihr Chef nur vorformuliertes Zeug von sich gibt. Und wenn die oft überlasteten Journalisten im schlimmsten Fall auch noch schlecht vorbereitet sind, setzen sich die Schönfärber durch.

Hast Du eine typische Schönfärberphrase im Kopf?

Klar, ich lese die ja ständig. Nehmen wir den Satz „Wir müssen Anpassungsprozesse vornehmen, um fit für die Zukunft zu sein.“ Der steht dann unerklärt da. Aber was soll er bedeuten? Verbrämt er die Absicht, Stellen zu streichen? So ein Satz schreit danach nachzuhaken. Jetzt fällt mir ein weiteres Problem ein: Vielen Interviews mangelt es an Voraussetzungsfreiheit.

Was ist das?

Voraussetzungsfreiheit praktizieren wir, wenn wir als Journalisten keine tieferen Vorkenntnisse beim Leser voraussetzen. Wenn also ein Manager sagt: „Wir erinnern uns noch an 2010″ muss der Interviewer dafür sorgen, dass der Leser versteht, was der Befragte mit „2010“ meint – zum Beispiel das schlimme Wirtschaftskrisenjahr infolge der Finanzkrise, in dem unzählige Aufträge storniert und kaum noch Waren verkauft wurden. Ein anderes Beispiel, jetzt aus dem Schwäbischen, wo die Südbahn zum Bodensee elektrifiziert werden soll. In einem Interview tauchte mal der Satz auf: „Wir müssen uns auch des leidigen Themas Südbahn annehmen.“ Aber was ist das „leidige Thema“. Die Elektrifizierung, der marode Bahnhof in Ulm, das Chaos bei der Finanzierung oder was anderes?

Wie geht der gute Journalist vor, wenn der Interviewte solche Informationen verschweigt?

Indem er ihn konkret danach fragt oder eine sinnstiftende Erklärung später in die Antwort einfügt, wenn er sicher ist, dass die Ergänzung korrekt ist.

„Friss oder stirb‘ wäre ziemlich respektlos.“

Angenommen, Du bekommst ein mangelhaftes Interview zum Redigieren. Schreibst Du es dann selbst um, gibst Du es zurück an den Verfasser oder kommt es mangelhaft ins Blatt?

Es wäre ziemlich respektlos, den Text nach dem Motto „Friss oder stirb“ umzuschreiben. Ich bin dem Interviewten ja gar nicht begegnet. Die bessere Variante ist die Kommentarfunktion in Word. Dort können Redigierer neue Formulierungen vorschlagen, nachfragen, et cetera. Und dann geht das Dokument zurück an den Verfasser.

Das kostet wiederum Zeit.

Stimmt. Deshalb können wir uns diesen Luxus im schnellen Online- und Tageszeitungsgeschäft nicht immer leisten.

Das bedeutet?

Gemeine Frage. Aber ja, wenn wir extrem unter Zeitdruck stehen, müssen wir ein mangelhaftes Interview auch mal nur notdürftig verbessert ins Blatt oder online bringen. Das ist ärgerlich und muss möglichst vermieden werden.

Wie reagieren Redakteure und freie Journalisten, wenn Du ihnen mitteilst, dass deren Interviewtextqualität noch zu wünschen übrig lässt?

Wenn sie sich respektvoll behandelt fühlen und dazu Verbesserungsvorschläge bekommen, sind sie in der Regel froh und dankbar darüber. Wir reden ja jetzt über größtenteils jüngere, relativ unerfahrene Kolleginnen und Kollegen. Sie können meine Einlassungen an ihren Texten auch nutzen, um mit meiner Rückendeckung ihre Änderungswünsche an den Interviewten heranzutragen. So nach dem Motto: „Tut mir leid, aber einfach nur ‚Erntekette‘ akzeptiert mein Ressortleiter nicht. Der will Begriff und Kontext genauer erklärt wissen.“

Du scheinst ja ein Anhänger konstruktiver Kritik zu sein. Macht das jeder Leitende so?

Ich kannte mal einen, der hat den Text eines Redakteurs mit einem krachenden „Scheiße! Neu!“ auf dem Ausdruck kommentiert. In modernen Redaktionen kommuniziert man anders.

Wir haben jetzt viel über Mängel in Interviewtexten gesprochen. Wo siehst Du eigentlich die Ursachen dafür?

Da gibt es viele, auch situativ bedingt. Eine ständige Ursache liegt meiner Ansicht nach darin, dass das Interview schon bei der Volontärsausbildung in den Redaktionen nur unzureichend behandelt wird. Wir müssen die jungen Journalisten mehr anleiten. Es gibt ja einige, die noch auf dem Weg zum ersten Interview glauben, dass sie das Gesagte nach dem Gespräch genauso aufschreiben müssen. Und das zu allem Überfluss auch noch in der Reihenfolge, wie es gesagt wurde! Ein Interview ist kein Gesprächsprotokoll.

Was ist es für Dich?

Ein Interview ist wie alle anderen journalistischen Darstellungsformen ein Text, in den die Redaktion redigierend eingreifen muss. Das heißt, der Interviewtext bekommt nach dem Gespräch immer einen anderen Wortlaut – schon um in den verfügbaren Platz in der Zeitung zu passen. Eventuell bekommt er auch eine andere Dramaturgie.

Viele junge Journalisten trauen sich solche weitgehenden Änderungen nicht.

Weil ihnen nicht klar ist, dass es erlaubt ist, das Gesagte in geänderter Form korrekt wiederzugeben. Manche lassen es aber auch aus Angst sein, aus Liebedienerei sozusagen, weil sie mit einem Hierarchiegefälle nicht umgehen können.

Wenn zum Beispiel ein junger Lokalredakteur den altgedienten Konzernchef interviewt hat?

Richtig, dann hat der vermeintlich kleine Redakteur mitunter erst – im Gespräch – Berührungsängste und traut sich danach kaum, in den gesprochenen Text einzugreifen.

„Die Autorisierungspraxis ist ganz vernünftig.“

Nach der Verschriftlichung folgt die Autorisierung. Letzteres ist das Eingriffsrecht des Interviewpartners, das Journalisten am liebsten abschaffen würden. Du auch?

Ich verstehe die Aufregung um das Thema nicht. Die Autorisierungspraxis ist ganz vernünftig.

Was? Das musst Du begründen.

Gerade haben wir besprochen, dass Journalisten die Original-Antworten insbesondere von Managern und Technokraten stark kürzen, interpretieren und zuspitzen müssen. Dafür ist die Autorisierung das Netz mit doppeltem Boden. Sie sichert ein korrektes Endergebnis. Außerdem bekommt das Interview dadurch einen Rang wie keine andere journalistische Darstellungsform: Es wird zu einer zitablen, belastbaren Primärquelle. Der Interviewte kann nicht mehr sagen, er hätte das, was dort steht, nicht gesagt.

Angelsächsischen Journalisten ist die Autorisierung aus ihrer Heimat unbekannt. Sie wundern sich darüber und nennen die Praxis hierzulande Zensur.

Genauso geht es Journalisten einiger osteuropäischer Länder; das kenne ich von internationalen Messen. Dort merke ich immer, dass Manager im Gespräch mit denen plötzlich anfangen wie Roboter zu sprechen. Die gehen auf Nummer sicher, weil sie nichts mehr am Gesagten ändern können, erzählen viel mehr Marketingfloskeln. Das ist der Preis für ein Interview ohne Autorisierung. Mir sind vergleichsweise offene Worte lieber.

Was ist mit dem Argument, dass die Autorisierung häufig missbraucht wird, um interessante Antworten im Nachhinein zu verwaschen oder ganz zu streichen?

Wenn klare Aussagen irgendwelchen Marketingfloskeln und anderem Kauderwelsch zum Opfer fallen, ist das natürlich inakzeptabel.

Wie zeitaufwändig ist so ein kompletter Interviewprozess Deiner Erfahrung nach?

Das kommt vor allem auf den Qualitätsanspruch des Interviewers an. Leider denken viele Journalisten: Wenn man Zeit sparen und sich wenig Mühe machen will, macht man halt ein Interview. Das ist ein übler Trugschluss, eine Sünde am Leser. Gerade junge, unerfahrene Interviewer unterschätzen den Aufwand für die Kette von der Anfrage über die Vorbereitung bis hin zum Abschreiben, Formulieren und Autorisieren.

„Das ist alles ausgelutscht und unauthentisch.“

Gibt es ein Print- oder Online-Interviewformat, das Dir besonders gut gefällt?

(Überlegt) Ein Lieblingsformat habe ich nicht mehr. Vor ein paar Jahren gab es die „Dienstfahrt“ in der WELT am Sonntag. Da hat der Redakteur den Gesprächspartner in einer ungewohnten Situation – bei der Fahrt zur Arbeit, im Aufzug, im Zug oder bei einer Bootsfahrt – interviewt, statt im braunen Besprechungszimmer. Da wurden wirtschaftliche und private Themen interessant verwoben, sodass man die Persönlichkeit ein bisschen kennenlernen konnte. Aber in letzter Zeit merke ich, dass mich insbesondere personalisierte Interviews im Wirtschaftsbereich, die Interviewte als Experten und als Mensch nahebringen sollen, meistens langweilen.

Warum?

Ich will nicht immer lesen, dass Manager „technikversessen“ und „zahlenverliebt“ sind, „gerne Marathon laufen“ und „sich in ihrer knapp bemessenen Freizeit am liebsten um die Familie kümmern.“ Das ist alles ausgelutscht und unauthentisch.

Dir fallen gar keine Highlights ein?

Doch, doch. Ich suche die Links und maile sie Dir.

Steffen, danke für Deine Zeit.

 

Zwei Stunden nach dem Telefonat waren Steffen Ranges Interviewempfehlungen da. Hier sind sie:

Von SZ-Redakteur Tobias Kniebe mit dem Schauspieler Tommy Lee Jones

Von WELT-Korrespondent Boris Kálnoky mit Ungarns Ministerpräsident Victor Orbán

Von Christoph Plate, Redakteur der Schwäbischen Zeitung, mit dem US-Konfliktforscher Joshua Landis

Von Stefan von Bergen, Redaktor der Berner Zeitung, mit dem muslimischen Psychologen Ahmad Mansour

Und hier drei lesenswerte Interviews mit dem ehemaligen griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis:

Von den ZEIT-Redakteuren Marcus Gatzke, Mark Schieritz und Jana Simon

Von WELT-Redakteur Daniel-Dylan Böhmer

Von NewStatesman-Redakteur Harry Lambert


Steffen Range
  ist Chefredakteur der Deutsche Handswerks Zeitung. Zuvor war er Leiter des Ressorts Wirtschaft und Leiter Digitales bei der Schwäbischen Zeitung in Ravensburg. Bis 2011 arbeitete er bei der Axel Springer AG in Berlin im Leitungsteam von Welt Online sowie als Blattmacher im Wirtschaftsressort der Welt am Sonntag und Welt. Zuvor war er in Düsseldorf Geschäftsführender Redakteur und Leiter des Online-Auftritts der Wirtschaftswoche (wiwo.de). Bei der Verlagsgruppe Handelsblatt hat Steffen Range nach dem Studium der Geschichte, Wirtschaftsgeschichte und Politik auch sein Volontariat absolviert.
* Mario Müller-Dofel ist Mitinitator des Wissensportals „Alles-über-Interviews“ und Geschäftsführer des Seminar- und Trainingsanbieters Dialektik for Business.