Udo Jürgens’ Todestag: Erinnerungen an ein Interview
Der Star ohne Allüren
Im Jahr 2014 ist Udo Jürgens gestorben. Kurz vor Weihnachten. Am 21. Dezember. Seither denke ich jedes Jahr an diesem Tag an ein Interview mit ihm. 2011 hatte ich Udo Jürgens für das Wirtschaftsmagazin €uro interviewt. Das Besondere daran war nicht unbedingt das Interview an sich, sondern das Treffen mit ihm am Abend zuvor. Eine nebensächlich erscheinende Episode, die jedoch einiges über den Menschen Udo Jürgens verriet. Sein Todestag ist ein guter Anlass, sich zu erinnern.
Von Mario Müller-Dofel*
Ein Sonntagvormittag. Ich stehe mit meiner Ehefrau am Check-out eines Hotels in Quedlinburg. Mein Telefon klingelt. „Ja?“, frage ich.
„Hallo?“, ruft mir einer gut gelaunt ins Ohr.„Ist da der Mario Müller-Dofel?“
Ich erkenne die Stimme nicht, bin am Check-out an der Reihe und leicht genervt. „Ja, richtig, der bin ich. Und mit wem spreche ich?“
„Hallo! Hier ist Udo Jürgens!“
Welcher Scherzkeks veralbert mich hier, denke ich. Wer von meinen Redaktionskollegen weiß, dass ich den Künstler für ein Interview angefragt habe? „Äh, ja, ähm …“ Ich überlasse meiner Frau das Auschecken und eile irritiert in eine ruhige Ecke. „Ja, hallo Herr Jürgens“, sage ich zögerlich. Gleich outet sich vermutlich ein Kollege oder Bekannter von mir. „Ähm, das ist ja eine Überraschung“, schiebe ich nach. Man weiß ja nie. Dann redet der andere wieder – und es wird klar: Das ist kein Scherzkeks aus meiner Redaktion. Es ist tatsächlich Udo Jürgens.
Diese Episode ereignete sich im Oktober 2010. Ein paar Wochen zuvor hatte ich ihn schriftlich um ein Interview für das Wirtschaftsmagazin €uro gebeten. Dass er daraufhin an einem Sonntagvormittag mal eben den ihm unbekannten Journalisten persönlich anrief, signalisierte bereits, wie uneitel dieser Star sein konnte. Als Interviewer von DAX-Vorständen war ich durchaus anderes gewohnt.
Am Abend vor dem Interview erstmal in die Züricher Kronenhalle
An jenem Oktobersonntag im Jahr 2010 erklärte Udo Jürgens mir, dass er mir das Interview gerne gäbe, dies aber zurzeit unmöglich sei, weil er mit den Dreharbeiten zur seiner Familienbiographie „Der Mann mit dem Fagott“ für die ARD beschäftigt war. „Ich bin gerade in Prag und es gibt noch viel zu tun. Aber wir machen das später“, versprach er.
“Später” – das war sieben Monate nach unserem telefonischen Sonntagsplausch. Das Interview wurde von Jürgens‘ Pressesprecher auf den Vormittag des 10. Mai 2011 terminiert. Geplante Gesprächszeit: 75 Minuten. Ort des Geschehens: Udo Jürgens‘ Wohnhaus bei Zürich. Ein paar Tage vorher rief mich der Pressesprecher an und fragte: „Wann reisen Sie an?“
„Am Abend vor dem Interview.“
„Wo übernachten Sie?“
„In einem Hotel in Zürich.“
„Gut! Udo ist an diesem Abend auch in Zürich. Er würde gerne mit Ihnen zu Abend essen. Haben Sie Zeit? Er würde sich freuen.“
Wow, welch eine Gelegenheit. „Mein Fotograf Axel Griesch ist ebenfalls schon am Vorabend in Zürich“, antwortete ich. „Ich würde ihn ungern außen vor lassen. Wäre es okay, wenn er mitkommt?“
„Gerne“, sagte der Pressesprecher. „Wir treffen uns am 9. Mai abends in der Kronenhalle. Bis dann!“
Mit Udo Jürgens in der Kronenhalle
Das war der Hit. Udo Jürgens. Komponist. Pianist. Chansonnier. 60 Karrierejahre. 105 Millionen verkaufte Tonträger. Einer der erfolgreichsten Solomusiker der Welt. Ein Star. Zürich. Kronenhalle. Essen, trinken, reden. Diese Begegnung musste etwas Besonderes werden.
Er wurde es. Axel Griesch und ich trafen Udo Jürgens in der berühmten Kronenhalle. Er saß bereits am Tisch, in dunklem Anzug, weißem Hemd, eher wie ein topfitter Sechzigjähriger wirkend als einer, der bald 80 wird. Und bestens gelaunt. Er stand auf. „Guten Abend, Herr Müller-Dofel. Guten Abend, Herr Griesch. Ich freue mich, dass Sie da sind. Nehmen Sie Platz.“
Udo Jürgens wusste, dass ich in der DDR aufgewachsen war und fragte mich darüber aus. Er interviewte den Interviewer, mit dem Körper nah am Tisch, neugierig wie ein Kind, lauernd auf jede neue Information, als hörte er zum ersten Mal von diesem Land. Später redeten wir über seine Musik, über Liedtexte, über griechischen Wein, über seinen Kumpel Gunter Sachs, der sich zwei Tage zuvor getötet hatte, und über Gott und die Welt, wie man so sagt. Dass ich bis zur Vorbereitung auf unser Interview wenig mit seiner Musik anfangen konnte, war völlig okay für ihn.
Udo Jürgens: Dem Interviewer einen besonderen Abend bereitet
Nach etwa drei Stunden, gegen 23 Uhr, nahmen wir unsere Rotweingläser und gingen nach nebenan, in die Bar der Kronenhalle, setzten uns in eine spärlich beleuchtete Nische und redeten und tranken weiter. Hier kam Billy Kudjoe dazu, sein langjähriger Assistent und musikalischer Begleiter, der am Sonntagnachmittag, den 22. Dezember 2014, im schweizerischen Gottlieben an Udo Jürgens‘ Seite war. Als dem Achtzigjährigen beim Spaziergang das Herz versagte. Damals, am 9. Mai 2011, sagten wir nach Mitternacht „Tschüss bis nachher zum Interview.“ Kudjoe fuhr Jürgens nach Hause.
Prost! Auf diesen Abend. Auf diesen Star ohne Allüren. Dem 75-Minuten-Interview am nächsten Vormittag war ein vierstündiges „Warm up“ vorausgegangen, in dem Udo Jürgens gezeigt hat, warum sein Konzertpublikum ihn liebte: weil er es liebte, anderen Menschen besondere Abende zu bereiten. Und weil er ihnen das Gefühl geben konnte, dass er ganz und gar nichts Besonderes sei, sondern einfach einer von ihnen. Wenn einer seiner Songs diesen gemeinsamen Abend beschreibt, dann ist es „Schenk mir noch eine Stunde“.
Udo Jürgens privat
Am nächsten Tag, die Sonne schien, fuhren Fotograf Axel Griesch und ich zu Jürgens’ Haus, einige Kilometer von Zürich entfernt. Und auch hier überraschte er uns: Da stand keine dieser Neureichen-Villen, wie man sie von allzu vielen anderen Millionären und Promis kennt. Das war ein schickes, sehr gepflegtes, aber auch typisch bürgerliches Einfamilienhaus inmitten einer typisch bürgerlichen Einfamilienhaussiedlung, in einem unspektakulären Städtchen. Wir setzten uns auf die Terrasse vor seinem Wohnzimmer. Ohne Pressesprecher. Die dutzenden, wild durcheinander liegenden Notenblätter auf seinem Flügel symbolisierten das, was Jürgens musikalisch erfolgreich machte: ungezügelte Kreativität.
Der Star ohne Allüren war an diesem Vormittag genau wie am Abend zuvor: Ein Gesprächspartner, wie Interviewer ihn sich nur wünschen können – offen, konzentriert und herzlich. Wir sprachen über Börse und Geld. Aufgeblasene Phrasen waren seine Sache nicht. Auch das war etwas Besonderes.
Danke, dass wir Sie erleben durften, Udo Jürgens!
Ruhen Sie in Frieden.
Das ausführliche €uro-Interview mit Udo Jürgens lesen Sie hier. Und hier ist die Printversion mit schönen Bildern :-).
* Mario Müller-Dofel ist Mitinitiator des Wissensportals „Alles über Interviews“.