detektor fm: Chefredakteur Marcus Engert im Interview
„Radio ist für Interviews wunderbar”
Geistreiche Gespräche mit Menschen, die zu Themen viel zu sagen haben – beim Internetradio detektor fm spielen Interviews eine besondere Rolle. Marcus Engert gehörte zu den Gründern und ist Redaktionsleiter des Leipziger Senders, dessen Sendungen live im Netz zu verfolgen sind und dessen Podcasts immer beliebter werden. Hier erklärt Engert, welche Art der Interviews sein Team der Zielgruppe bietet, was gute Interviewer ausmacht und warum es ein Gewinn sein kann, nicht mit dem Interviewpartner im selben Raum zu sitzen.
Von Tim Farin*, im April 2017
Tim Farin: Herr Engert, wir unterhalten uns für alles-ueber-interviews.de. Bei unserem Portal geht es darum, die Qualität von Interviews unter die Lupe zu nehmen und Tipps zu geben – nicht nur für Redaktionen, sondern auch Pressestellen und Unternehmenskommunikatoren. Sehen Sie hier Bedarf?
Marcus Engert: Ja, und ich finde es eine gute Sache. Wir haben gerade einen aktuellen Fall hier in Leipzig, der zeigt, dass mit Interviews vieles schiefläuft. Die Polizei interviewt sich nämlich selbst, vielleicht auch, weil es mit der Presse immer so unangenehm ist. Das Ergebnis fällt ganz furchtbar aus. Die Polizei blendet mit Standbildern Fragen ein, dann antwortet der Sprecher. Man sieht, dass der Sprecher die Sache selbst produziert. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie man Interviews nicht aufziehen sollte – aber auch dafür, wie der Marker „Interview“ falsch eingesetzt wird und damit falsche Erwartungen weckt. Hier gibt es Verlautbarungen, keine Gespräche. Das ist aber ja leider häufig so.
„Wir sind nicht der typische Radiosender, der Leute in [1:30] Minuten durch ein Thema durchprügelt.“
Hört man sich detektor fm an, dann hat man den Eindruck: Interviews gehören zu Ihrer Kernkompetenz. Stehen sie besonders im Zentrum Ihrer Arbeit?
Ja. Interviews bilden im Programm von detektor fm den Schwerpunkt – und wir entscheiden uns bewusst für diese Form. Bei vielen Themen könnten wir auch Beiträge bauen oder Texte vertonen, aber wir rufen lieber jemanden an. Deswegen müssen die Mitarbeiter, die das Interview vor- und nachbereiten, auch wissen, worauf es beim Gespräch ankommt.
Was macht Ihre Interviews aus?
Detektor fm ist nicht der typische Radiosender, der Leute in [1:30] Minuten durch ein Thema durchprügelt. Wir haben mehr Zeit und hören zu. Natürlich haben wir ein Stilbuch, Leitlinien und vermitteln unseren Mitarbeitern das Einmaleins des Interviewens, aber vor allem diese Haltung zum Interview steht im Mittelpunkt.
Welche Gründe sprechen dafür, dass Sie so stark auf Interviews setzen?
Man muss nicht drumherum reden: Interviews lassen sich für uns verhältnismäßig günstig produzieren. Detektor fm hat nicht das Geld, um zehn Reporter durch die Republik zu schicken. Aber es gibt noch andere Gründe. Wenn wir Themen vorbereiten, kommen wir sehr oft zu der Frage nach unserem Anspruch, der da lautet: Hintergründe zu Nachrichten zu liefern. Da erreichen wir schnell den Punkt, wo wir sagen: Wir brauchen einen echten Experten. Wir wollen Material produzieren, das auch in ein paar Monaten noch hörbar ist und nicht nur die Aktualität abbildet. Dann kommt man um Gespräche mit Experten kaum herum.
In der Lehre entscheiden wir immer zwischen Interviews zur Sache, zur Meinung und zur Person – bei Ihnen geht es also meist um Sach-Interviews?
Manchmal haben wir auch persönliche Interviews, in denen jemand über ein besonderes Erlebnis spricht. Aber meistens wollen wir Experten in der Sendung, die Themen erläutern und denen man darin auch vertraut. Das heißt nicht, dass diese Person politisch neutral sein muss – wir können das einordnen.
Ein klassisches Vorurteil gegen Expertengespräche: Sie sind langweilig.
Das glaube ich nicht. Detektor fm hat eine Zielgruppe, die bereit ist, einem Interview eine Aufmerksamkeitsspanne von fünf bis zehn Minuten zu widmen. Das gibt es im Formatradio nicht unbedingt. Da hört jemand zufällig beim Autofahren oder Kochen zu – und schaltet nach wenigen Minuten weg, wenn es ihn nicht interessiert. Bei uns im Netz ist das anders: Die Leute gehen ganz bewusst auf eine Adresse, suchen sich die Formate, die Podcasts raus.
„Wir lassen die Leute auch zwei, drei Nebenaspekte ausführen. Dann wird es meistens kein langweiliges Gespräch.“
Dennoch dürfen die Gespräche nicht langweilen.
Klar, der Moderator darf nicht plump sein. Er muss ein bisschen ‚kitzeln‘. Wir siezen zum Beispiel ganz bewusst auf dem Sender. Wir distanzieren uns damit – das bewirkt etwas beim Publikum. Klar gibt es manchmal Gesprächspartner, die im Vorgespräch spannend klingen und dann in der Aufnahme nur noch dozieren. Aber eigentlich ist etwas anderes viel häufiger: Gesprächspartner, die hinterher froh sind, weil sie auch im Hörfunk mal ausreden dürfen und nicht nur die vom Formatradio gewohnten 20 Sekunden pro Antwort bekommen. Wir lassen die Leute auch zwei, drei Nebenaspekte ausführen. Dann wird es meistens kein langweiliges Gespräch.
Die Interviewer müssen viele Themen beherrschen, zumindest vordergründig und gut genug für ein Gespräch. Wie gelingt das?
Das ist eine Frage der Erfahrung. Mit der Zeit lernt man es, in einer Sendeschicht eine ganze Vielfalt von Themen zu stemmen: Um elf Uhr ein Gespräch mit einem Naturwissenschaftler über die Diagnose von Leberkrebs, um 13 Uhr mit dem Afghanistanexperten, um 15 Uhr mit einem Politologen über die Niederlande zur Wahl – und um 17 Uhr vielleicht ein Sportthema. Ein Moderator von detektor fm muss sich permanent in Themen einarbeiten – vor allem aber zuhören können. Wer nicht zuhören kann, geht unter.
Welche Rolle spielt die Vorbereitung?
Unser Ideal ist natürlich ein gut vorbereitetes Interview mit einem klaren Thema und Ziel. Das muss zum Glück nicht alles der Moderator selber machen. Da ist ja ein ganzes Team vorgeschaltet. Wir haben Kollegen, die das Thema eingrenzen, die Interviewpartner finden, Vorgespräche führen, das Skript erstellen. Der Moderator bekommt bei uns ein Briefing aus der Redaktion – hier sind die großen Fragen schon vorher geklärt. Aber die Würze, das Augenzwinkern, das lässt sich nicht vorbereiten, das macht der Moderator live.
Klappt das mit der Vorbereitung denn immer?
Nein, manchmal ist ein Gesprächspartner spontan erreichbar. Dann ist der Moderator besonders gefragt, muss in der Situation besonders konzentriert zuhören.
Inwiefern achten Sie in der Interviewführung auf die Zielgruppe?
Sie ist sehr wichtig, weil sie unsere Gespräche prägt. Wir wissen, dass unser Publikum sich stark aus Akademikern zusammensetzt und aus urbanen Verhältnissen stammt. Wenn ich das mitdenke, habe ich eine Idee davon, wie ich ein Gespräch führen kann. Bei detektor fm geht es nicht darum, Abschaltimpulse zu vermeiden – sondern darum, intellektuell herauszufordern.
„Unsere Moderatoren machen den Beruf noch nicht seit 40 Jahren“
Wenn mal eine Frage danebengeht, der Moderator einen Fehler macht – wie soll er damit umgehen?
Unsere Moderatoren sollen das nicht aus Scham totschweigen, sondern auch verbalisieren, wenn sie etwa die neueste Studienlage nicht kennen. Es geht dann darum, es offen zu sagen. Unsere Moderatoren machen den Beruf noch nicht seit 40 Jahren, die sind noch nicht ganz so starr in der Interviewführung und bringen auch die Bereitschaft zum Dazulernen mit.
Printinterviews entstehen meistens als Folge einer Situation, in der die beiden Gesprächspartner sich vorher beschnuppern, ehe es losgeht. Wieviel Gefühl für den Gesprächspartner haben die Moderatoren bei Ihnen?
Wir gehen nicht direkt in die Aufzeichnung, sondern machen vorher ein kurzes Aufwärmgespräch – das vermittelt dem Moderator schon einen Eindruck. In den meisten Fällen haben wir eine Vorstellung, wie sich der andere Mensch gibt, wie er reden wird. Aber es kommt schon auch vor, dass wir den Experten überhaupt nicht einordnen können. Das muss aber nicht immer schlimm sein, denn wir vertreten ja auch die Zuhörer – und die haben auch nicht die Zeit, vor einem Interview fünf Texte des Interviewpartners zu studieren.
Wann müssen die Moderatoren ihre Haltung erkennen lassen?
Es gibt bei uns einen klassischen Themenbereich – Überwachung, Privatsphäre, Daten – da führen wir immer wieder auch konfrontative Gespräche. Hier geht es nicht um die persönliche Meinung des Moderators, wohl aber darum, den Gesprächspartner zu konfrontieren, Argumente vorzutragen. Es braucht da schon Spannung, das können wir nicht machen wie bei einem Expertengespräch. Es ist übrigens interessant, dass eine solche Gesprächsführung von Hörern mitunter als unhöflich wahrgenommen wird, wie wir etwa aus E-Mails sehen.
Dürfen Sie an Interviews etwas verändern?
Wenn es live ist, ist es live – da brauchen wir gar nicht diskutieren. Wenn das Gespräch aufgezeichnet wird, schneiden wir – aber sehr zurückhaltend. Wir entfernen Stolperer oder Sätze, in denen sich jemand vertan und dann neu angesetzt hat. Wir spitzen nichts zu, nehmen keine Informationen raus.
Wie sieht es mit Autorisierungen im Internetradio aus – was wir mit diesem Text hier selbstverständlich tun werden?
Es gibt immer wieder die Frage, aber wenn wir sagen: Im Hörfunk gilt das gesprochene Wort, dann verstehen die Leute das schon. Die Gesprächspartner haben auch Vertrauen, wenn sie sich auf unserer Seite mal ein Gespräch anhören. Sie merken, dass detector fm fair arbeitet und wir nicht verkürzen. Ein Interviewpartner, der auf Autorisierung besteht, bekommt bei uns keinen Platz.
Wie sieht es mit Fragen vorab aus?
Das machen wir auch nicht. Es gibt Mittelwege, wenn die Gesprächspartner ein nachvollziehbares Interesse an der Vorbereitung haben. Dann können wir Themenbereiche ausschließen oder gewisse Aspekte nennen, die uns wichtig sind. Einen Fragenkatalog schicken wir grundsätzlich nicht raus. Nicht nur, weil es unjournalistisch wäre – sondern auch, weil die Leute dann klingen würden, als ob sie vorlesen.
„Der gute Interviewer bei detektor fm weiß viel mehr, als er sagt. Er kann das Ego nach hinten stellen“
Auf welche Interviews von detektor.fm sind Sie stolz?
Ich könnte jetzt so etwas sagen wie: Auf das Gespräch mit dem Kunstprofessor Bazon Brock, der bei uns richtig ausgerastet ist, als er hörte, dass der WDR seine Kunstsammlung versteigern wollte. Aber das ist eigentlich nicht die Wahrheit. Mehr als um den Effekt geht es mir um die dauerhaft gute Arbeit. Ich bin stolz auf eine Redaktion, die Tag für Tag daran arbeitet, dass die Hörer die Hintergründe zu komplexen Themen verstehen. Ich finde, da macht unser Team einen sehr guten Job – gerade beim Interviewen.
Was macht gute Interviewer aus?
Sie sind grundneugierig. Sie lassen Gesprächspartner ausreden. Sie können ihre eigene Haltung zurückstellen, aber Haltung im Gespräch bewahren und andere Haltungen nutzen, um das Gespräch voranzubringen. Der gute Interviewer bei detektor.fm weiß viel mehr, als er sagt. Er kann das Ego nach hinten stellen – und die Perspektive des Hörers einnehmen.
Sie haben Erfahrung als Printjournalist und als Audiomacher. Wenn Sie das mal vergleichen: Fehlt Ihnen am Mikrofon nicht der persönliche Eindruck des Menschen vor Ihnen, den Sie sehen und dem Sie die Hand schütteln können?
Natürlich sind es unterschiedliche Situationen, aber ich betrachte das nicht als Defizit. Zum einen, weil mir die räumliche Entfernung, also das Sprechen über die Leitung, auch mehr persönliche Distanz ermöglicht. Kritische Fragen fallen mir dann leichter. Wenn mir jemand gegenübersitzt, kostet das mehr Überwindung, vor allem, wenn er auch noch sympathisch ist.
„Wenn man einmal überlegt, wie viel von ihrem Wesen Menschen nur über die Stimme transportieren, dann ist das bemerkenswert.“
Wenn Sie aber nur die Stimme hören – was bleibt dann in Ihrer persönlichen Erinnerung vom Interviewpartner?
Manchmal erstaunlich viel, manchmal auch sehr wenig. Je länger das Gespräch zurückliegt, desto klarer habe ich Gesprächspartner in Erinnerung, die nicht austauschbar waren. Es gibt leider eine Menge Ansprechpartner, die sind durchgeschult, die drücken sich so glatt und unangreifbar aus, dass man es bald wieder vergessen hat.
Als traditioneller Magazinjournalist würde ich erst einmal meinen, dass Ihnen bei der Arbeit mit Mikro und Kopfhörer ohnehin der bleibende persönliche Eindruck fehlt.
Das stimmt nicht. Wir können ja sehr genau hinhören. Überhaupt ist Radio für Interviews gerade deshalb wunderbar, weil wir eben einen starken Eindruck der Person übermitteln können, aber einen anderen als Text und Bild. Wenn man einmal überlegt, wie viel von ihrem Wesen Menschen nur über ihre Stimme transportieren, dann ist das bemerkenswert. Innerhalb von Sekunden entsteht in unserem Kopf ein Bild des Menschen – aber ein anderes Bild als das von Mimik, Gestik, Größe und Äußerlichkeiten. Wir gewinnen einen Eindruck einer Person, die in dem Menschen steckt. Das ist sehr schön.
Vielen Dank für das Gespräch.
Marcus Engert ist Mitgründer und Redaktionsleiter des Internetradios detektor fm aus Leipzig. Engert, am 30. Januar 1984 geboren, studierte Germanistik, Journalistik und Neuere Geschichte an der Universität Leipzig. Für seine Arbeit beim Lokalradio mephisto 97.6 prämierte ihn die Bundeszentrale für politische Bildung mit dem „W(ahl)-Award 2005“. Das Medium Magazin führte Engert 2013 in der Liste „Die Top 30 bis 30“ auf. Neben seiner Leitungsfunktion beim Leipziger Sender arbeitet er als Lehrbeauftragter an der HfM Karlsruhe und an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
* Das Gespräch führte Tim Farin. Er ist Mitinitiator von “Alles über Interviews”.