meedia.de-Artikel über Interviewautorisierung: Kommentar

Die Autorisierungspraxis in Deutschland wird als Problem überbewertet

Am 17.09. veröffentlichte meedia.de den Gastkommentar „Genug gekuschelt. Warum die Autorisierungspraxis deutschen Medien schadet“. Es geht um ein Interview von Bundesjustizminister Heiko Maas in der englischen Zeitung Financial Times (FT). Der Gastkommentar dazu ist interessant, weil er die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Printmedien durch die hierzulande gängige Autorisierung von verschriftlichten Interviews beeinträchtigt sieht. Er braucht Ergänzungen, weil darin wichtige Zusammenhänge fehlen. Und er muss kommentiert werden, weil die Thesen auf Irrtümern basieren.

Ein Diskussionsbeitrag von Mario Müller-Dofel*, im September 2014

meedia.de - Interviewautorisierung
Achtung, Neuigkeiten! Aber manchmal sind’s gar keine. (Foto: Carsten Reisinger/Fotolia.com)

Das Fazit vorweg

Immer wieder sorgen Änderungen in Interviewtexten zu Recht für Kontroversen zwischen Journalisten und Interviewten, doch umfassend betrachtet ist die Autorisierungspraxis weit weniger dramatisch als im diskutierten Gastkommentar dargestellt. Oft ist sie sogar berechtigt und macht Journalisten schlauer. Das ist das Fazit der folgenden Textbesprechung.

Der Autor schreibt in dem meedia.de-Artikel

“(…) Minister Maas hatte dem Korrespondenten der FT in Berlin in einem Interview erklärt, Google müsse sich transparenter verhalten und seinen Suchalgorithmus veröffentlichen, wenn der Konzern seine Zerschlagung als letzte Option vermeiden wolle. Um ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche Relevanz die Forderung des Ministers aus Sicht einer Nachrichtenredaktion haben sollte, stelle ich mir für einen Moment vor, er hätte dasselbe über die Rezeptur und die Zukunft von Coca Cola gesagt. (…) nun (…) kann ich mir im Moment kaum einen kühneren, auf ein Unternehmen gerichteten Angriff vorstellen als diesen. Und wenn er auch noch von einem Mitglied der deutschen Regierung kommt, ist sie nach allen Kategorien der Nachrichtentheorie eine nationale wie internationale Spitzenmeldung. (…)“

Ob Maas‘ Äußerung tatsächlich relevant war, haltbar bleibt und relevante Folgen haben wird, lässt sich erst in der Zukunft belegen. Fakt ist, dass Politiker gerne starke Worte sprechen, weil sie wissen, dass sie damit von Journalisten zitiert werden. Politiker brauchen Öffentlichkeit und Journalisten wollen so genannte Scoops, wobei viele davon verbale Nebelkerzen sind, die von Journalisten erst zu „Scoops“ aufgeblasen werden. Das, was oben als Spitzenmeldung interpretiert wird, sind umformulierte Wiederholungen von Aussagen, die zum Beispiel Maas‘ Parteichef und Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bereits im Mai 2014 in der F.A.Z. gemacht hat – ganz ohne Interviewfragen in einem Gastbeitrag.

„(…) Die deutschen Medien dackelten im Laufe des Vormittags pflichtbewusst und angemessen hinterher, so dass wenigstens klar war: Zitieren können wir! (…) Wäre es das erste oder zweite Mal, dass die Briten exklusiv aus und über Deutschland berichten, würde ich dem Hintergrund keine Beachtung schenken. Doch mein Eindruck ist ein anderer: Es gibt systematische Gründe für diese Nachrichtenlage. Sie mögen auch individueller Natur sein, sowohl in den Redaktionen (Einfallslosigkeit, Faulheit, Energieverlust durch Putschaktionen gegen Chefredakteure) sowie im Zusammenspiel einzelner Journalisten mit einzelnen Politikern (Gängelei). Doch ein harter, dingfest ausmachbarer Grund liegt im System (…) in der unsäglichen Praxis der Autorisierung von Interviews. (…)“

Der entscheidende „systematische Grund“ für die meisten bundespolitischen Nachrichten sind PR-Experten, die planen, wann, wo und wem ihre Chefs Interviews geben – und was sie dabei sagen. Es wäre normal, wenn Justizminister Maas in der FT genau mit den Sätzen zitiert worden wäre, mit denen er zitiert werden wollte. Maas hat sein Ziel erreicht (die im Mai von Sigmar Gabriel vorgegebene Google-Agenda international zu verbreiten) – und auch die Financial Times profitiert. Win-Win sozusagen. Übrigens äußern sich Konzernchefs und Politiker zu wichtigen internationalen Themen am liebsten in wichtigen internationalen Publikationen, weil sie sich dadurch maximales Gehör verschaffen. Hätte Heiko Maas dasselbe Interview in einer für Brüssel, Mountain View (Google-Hauptsitz) und Berlin unwichtigen Regionalzeitung gegeben, wäre es weit weniger zitiert worden. Das heißt: Nicht alleine der Wortlaut bestimmt den Nachrichtenwert von Interviewaussagen, sondern auch das Medium, das sie verbreitet.

„(…) Das bedeutet – und jeder, der dies liest, wird es wissen –, dass deutsche Journalisten mit ihren Interviewpartnern in Berlin kaum anders verfahren als etwa die eitlen, komplett PR-gelenkten Stars in Hollywood erwarten würden: Ist das Gespräch einmal geführt und aufgenommen, beginnt erst die richtige Arbeit, denn es muss abgestimmt, häufig verändert, gekürzt oder „entschärft“ werden, wie es im PR-Jargon heißt. Darüber ist schon viel geklagt und geschrieben worden, nicht zuletzt durch mich selbst: Im Jahr 2001 hatte ich in der Zeit über das Problem unter der Überschrift “Die Umschreiber” berichtet. (…)“

Hollywoodstar-Interviewer fragen in einem Korsett, das weit enger ist als bei deutschen Politikjournalisten. Aber ja, es gibt Autorisierungen, die von Interviewten missbraucht werden. Allerdings gibt auch jede Menge gerechtfertigte Veränderungen, die ja nicht nur PR-gemacht sind. Zuerst greifen die Journalisten ins Originalgespräch ein, indem sie es verschriftlichen. Da muss gekürzt und umformuliert werden, weil gesprochene Interviews kaum lesbar sind. Und natürlich vereinfachen und verschärfen Journalisten bestimmte Aussagen auch, wenn sie originale Antworten von 3000 Zeichen (normal bei Politikern) auf 500 Zeichen eindampfen müssen, weil ansonsten nur diese eine (unlesbare) Antwort ins Interviewlayout passen würde. Umschreiber sind also im ersten Schritt die Journalisten selbst und mitunter passieren ihnen dabei Fehler, die weitere Veränderungen durch Interviewte nach sich ziehen. Doch wie gesagt: Missbrauch ist auch mir zuwider.

„(…) Eine andere Aussage, an die ich mich noch heute gut erinnern kann, stammte vom damaligen Regierungssprecher Bela Anda, der nach Umwegen heute wieder für die Bild-Zeitung arbeitet. Er bestätigte, dass besonders gegenüber Briten und Amerikanern nicht immer von einer nachträglichen Autorisierung ausgegangen werden könne. Das war etwas kompliziert formuliert, aber in der Sache klar. Es gibt zwei Klassen von Journalisten: Die einen müssen autorisieren, die anderen nicht. 13 Jahre später bestätigt nun Jeevan Vasagar (von der FT, Anm. d. Red.), dass sein Gespräch mit Minister Maas nicht autorisiert worden sei. (…)“

Bela Anda hat sich als Regierungssprecher zunächst den Kopf darüber zerbrochen, ob sein Chef Gerhard Schröder ein Interview ohne Autorisierung riskieren kann. Bejahte Anda dies, hielt er die kommunikationsstrategischen Chancen für größer als die Risiken und bläute ihm ein, was er keinesfalls sagen durfte, weil ohne Autorisierung eben kein Wort mehr zurück zu holen ist. Bei Interviews mit nachträglicher Autorisierung lassen sich selbst clevere Interviewpartner eher entlocken, was sie eigentlich verschweigen wollten. Und auch wenn Plaudertaschen im Nachhinein bestimmte Aussagen wieder aus dem Interviewtext streichen: Der Interviewer hat sie nun auch im Kopf und hat die Streichung heikler Sätze womöglich Schwachstellen des Interviewten entlarvt. Mit diesem Wissen kann er nach dem Interview weiterarbeiten. Die Autorisierungszusage kann Journalisten also auch schlauer machen.

„(…) Während Briten meistens so genannte durchgeschriebene Texte verfassen, in denen sie einzelne Zitate aus den Gesprächen nutzen, aber darüber hinaus auch andere Stimmen zu Wort kommen lassen und das Gespräch insgesamt journalistisch einordnen, ziehen deutsche Journalisten sehr häufig die Form des Wortlautinterviews vor. Damit entziehen sie sich jeder journalistischen Einordnung, was man objektiv finden mag, was aber vor allem einfach und bequem ist. (…)“

Gibt es Objektivität in der zwischenmenschlichen Kommunikation? Das ist wissenschaftlich umstritten. Empfehlenswert dazu ist das Buch „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ des Konstruktivisten Paul Watzlawick. Gerade in Politiker-Interviews sind die meisten Fragen mit Informationen wie Zahlen und kontroversen Experten- und Journalistenmeinungen gespickt. Das macht sie subjektiv, suggestiv und tendenziös. Auf diese Art ordnen Interviewer die Antworten ihrer Gesprächspartner sehr wohl ein. Allzu brave Stichwortgeber sind in den großen deutschen Medien doch in der Minderheit.

„(…) So schön sich Wortlautinterviews machen und lesen lassen (…), so sehr darf nicht übersehen werden, dass sie die Wirklichkeit stets sehr konstruiert wiedergeben, weil etwa Dialoganschlüsse und überhaupt die Gesprächsdramatik in Teilen erfunden werden müssen. Viele solcher „Verbatim“-Interviews, wie sie im Englischen heißen, sind langweilig. Und wenn sie es nicht sind, haben sie viel mehr mit Theater und mit Tom Kummer als mit dem exklusiven Nachrichtenjournalismus zu tun, für den die Menschen Geld bezahlen möchten. (…)“

Richtig, durch nötige Kürzungen in Printinterviews fallen Dialoganschlüsse und Dramaturgien weg, die ersetzt werden müssen. Ein guter Interviewtexter wird sie aber kaum erfinden, sondern sich im originalen Gesprächsstoff bedienen. Wie ein Interviewtext wirkt, wird von den Lesern ganz unterschiedlich empfunden. Was für die einen langweilig ist, kann für andere interessant sein.
Es gibt sehr viele Menschen, die für Interviews ohne Nachrichtenwert Geld bezahlen. Das zeigen zum Beispiel boulevardeske Formate, Interviews, in denen Menschen seriös porträtiert werden und Sachinterviews mit Fachleuten. Dass Wortlautinterviews nicht völlig authentisch sein können ist klar. Theater ist vor allem in politischen Talkshows zu sehen, bei denen es keine Autorisierung gibt.

(…) „Was nun das Festhalten der Deutschen an der Autorisierung im Jahr 2014 besonders unfassbar macht, ist der wettbewerbliche Aspekt. Gerade in einer Zeit, in der Verlage knapsen und um jeden Krumen Aufmerksamkeit kämpfen, sollte ihnen das Interview der FT mit dem Bundesjustizminister – ausgerechnet über die marktbeherrschende Stellung von Google – eine Mahnung sein: Hört auf, Euch im eigenen Land und vor der eigenen Tür die Marktchancen zu rauben! Anstatt ständig nur Google zu verteufeln, nutzt Eure Lobbypower lieber, um ein verlässliches Regelwerk für Interviews in Deutschland zu verhandeln (…).“

Ich kenne keine validen Belege dafür, dass so genannte Scoops von Interviewten erfolgsentscheidend für eine Zeitung sein müssen. Davon abgesehen haben neun überregionale Zeitungen im Jahr 2003 versucht, sich auf einen gemeinsamen Kodex gegen missbräuchliche Autorisierung durch Interviewte zu einigen. Die Aktion verpuffte schnell, weil die Verlage sich uneins darüber waren, welche Nachteile ihnen der Kodex brächte. Schließlich missbrauchen – wenn man kritischen Berichten glauben darf – auch Interviewte aus Verlagen sowie interviewte Journalisten die Autorisierungspraxis. Denn auch sie verlieren ungern die Kontrolle über ihre Worte.

Letzte Passage aus dem Text auf meedia.de:

„(…) Solange deutsche Journalisten mit Politikern (und mit Wirtschaftsführern) kuscheln, mal aus Konvention, mal aus Angst, mal aus Faulheit, und solange der Widerstand gegen die Autorisierung nur auf den Seiten der „tageszeitung“ und in den Köpfen einiger Chefredakteure existiert, solange gehören die deutschen Jagdgründe für echte Scoops der FT und Co.(…)“

Wie schon erläutert: Die von Bundesjustizminister Maas gemachte Aussage in der FT bezüglich Google war kein echter Scoop, sondern eine umformulierte Wiederholung von früheren Aussagen anderer Politiker, die die FT kraft ihrer publizistischen Wirkung als Scoop inszenieren konnte. Die vermeintliche News ist zwar Anlass dieser Diskussion, aber dennoch nur Wort-Recycling. Diskutabel bleibt die Autorisierungspraxis trotzdem.

 

*Mario Müller-Dofel ist Mitinitiator des Wissensportals „Alles über Interviews“.