Zeitzeugen befragen: Stiftung Denkmal führte Interviews mit Holocaust-Überlebenden

Holocaust Survivers - Stiftung Denkmal

Zeitzeugen-Interviews: „Sprechen trotz allem“

Wie führt man Interviews mit Menschen, die schlimmste Schicksale erleiden mussten und darüber sprechen sollen? Dieser Frage ging „Alles über Interviews“ bei der Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas nach. Ein Gespräch über Professionalität und Gefühle beim Zeitzeugen-Interviewprojekt „Sprechen trotz allem“.

Von Mario Müller-Dofel*

Gleich zu Beginn unser Appell: „Alles über Interviews“ bittet Sie, liebe Leserinnen und Leser, das unten stehende Interview zu verbreiten. Es wäre ein wichtiger Beitrag für eine respektvolle Gesprächsführung – und gegen das Vergessen.

Vor dem Gespräch die wichtigsten Interviewprojekt-Daten:

Zwischen 2007 und 2014 führte die „Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ 72 Zeitzeugen-Interviews mit Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgung der Geburtsjahre 1913 bis 1942. Sie gaben dem Holocaust-Mahnmal ihre Stimmen – stellvertretend für die von den Nazis vernichteten Juden. Das kürzeste Zeitzeugen-Interview dauerte 61 Minuten (mit Rudolf Amariglio), das längste 7 Stunden und 48 Minuten (mit Regina Steinitz). Die Gesamtinterviewzeit betrug 220 Stunden, 43 Minuten und 57 Sekunden.

Herausforderung: Zeitzeugen zu ausgelöschten Lebenswelten empathisch interviewen

Hauptaufgabe der insgesamt acht Interviewer der Stiftung Denkmal, allesamt 30 bis 60 Jahre jünger als ihre Gesprächspartner, war es, die ausgelöschten Lebenswelten der Interviewten vor allem durch empathisches Zuhören zu ergründen. „Alles über Interviews“-Gesprächspartner Lennart Bohne, damals 32 Jahre alt, Politikwissenschaftler und seit Juli 2014 Leiter des Videoarchivs am Denkmal, war an 17 Interviews beteiligt. Was er und die anderen Interviewer erfahren haben, ist nach Login im Videoarchiv der Stiftung sicht- und hörbar. Hier können Sie auch die Publikation erwerben.

Stiftung Denkmal - Zeitzeugen-Interviews mit Holocaust-Überlebenden
Frankfurt/Main, Februar 2013: Daniel Hübner, Daniel Baranowski und Lennart Bohne (2. v. rechts) vor dem Interview mit dem Holocaust-Überlebenden Pavel Taussig (r.). © Stiftung DenkmalIm Interview mit Mario Müller-Dofel berichtet Lennart Bohne, wie die Interviewer den Interviewprozess gestaltet haben, wie sie mit Gefühlsausbrüchen umgegangen sind und wofür sie von den Holocaust-Überlebenden die größte Anerkennung bekamen.

„Ich hab sogar eine Zeit lang gedacht … vielleicht leb ich nur deshalb, um das noch zu erzählen.“


Mario Müller-Dofel: Herr Bohne, wie viele Holocaust-Überlebende haben Sie kontaktiert, ehe Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen die 72 Gesprächspartner zusammen hatten?

Lennart Bohne: Wir haben rund 100 Überlebende kontaktiert.

Wie?

Nach einem festen Muster, bei dem das Wichtigste war, keinen Druck auf die Angefragten auszuüben. Der Erstkontakt fand schriftlich per Brief statt.

Warum ausgerechnet per Brief?

Die Angefragten waren zumeist über 80 Jahre alt, sodass sie kaum via E-Mail kommunizieren. Eine schriftliche Gesprächsanfrage hat zudem den Vorteil, dass die Adressaten sie nach dem ersten Lesen erst einmal weglegen, darüber nachdenken und eventuell wiederholt lesen können, ehe sie sich für eine Interviewzusage oder -absage entscheiden. Dagegen fühlen sich Menschen bei einer telefonischen Anfrage häufig genötigt, sofort eine Antwort zu geben.

Was stand in den Briefen?

Wer wir als Stiftung Denkmal sind und warum wir für das Interviewprojekt „Sprechen trotz allem“ mit den angefragten Holocaust-Überlebenden vor einer Videokamera sprechen möchten. Zudem haben wir Publikationen über die Stiftung, unser Videoarchiv und über das Holocaust-Denkmal in Berlin beigelegt.

„Uns Interviewern war klar, dass wir bereits in der Gesprächsanbahnung den Ton für die gesamte Interviewkommunikation etablieren.“

Haben Sie nachgehakt, wenn ein Wunschgesprächspartner abgelehnt oder nicht geantwortet hat?

Nein. Dann hätten wir ja doch Druck gemacht. Außerdem werden die Angefragten, die nicht geantwortet haben, sehr gute Gründe dafür gehabt haben. Vergessen Sie nicht, dass viele dieser Menschen schon Jahrzehnte verstummt waren, was ihre oftmals traumatischen Lebens- und Überlebensgeschichten betraf.

Angesichts dessen würde so mancher Journalist vielleicht sagen: Dann wird’s jetzt mal Zeit für ein Interview.

Das weitere Schweigen zu akzeptieren, ohne die Gründe dafür im Detail zu kennen, war für uns eine Frage des Respekts. Nur den Angefragten, die sich für ein Interview mit uns interessierten, haben wir schrittweise mehr Informationen gegeben.

Worum handelte es sich dabei?

In weiteren Briefen stellten sich die jeweiligen Interviewteams vor, die immer aus zwei Interviewern und einem Kameraverantwortlichen bestanden. Im Wesentlichen beschrieben wir unsere wissenschaftlichen Ausbildungen, machten deutlich, dass es uns um die kompletten und konkreten Lebensgeschichten unserer Interviewpartner geht, um eine Reduzierung der Interviewten auf ihr Schicksal als Verfolgte des nationalsozialistischen Regimes zu vermeiden.

Sie erwarteten also was genau von den Überlebenden?

Wir erwarteten keine wissenschaftliche Skizzierung der Gesamtgeschichte des Holocaust, sondern waren interessiert daran, wie die Interviewpartner die Jahre ihrer persönlichen Verfolgung überleben konnten und wahrgenommen haben. Uns interessierte aber auch das Davor und Danach, das für den jeweiligen lebensgeschichtlichen Kontext unserer Interviewpartner bedeutsam war.

Sie sagten, dass Ihre Interviewanfragen keinerlei Druck auf die Zeitzeugen erzeugen dürften. Gab es weitere Prämissen?

Natürlich mussten wir die nötige Vertrauensbasis zu den Holocaust-Überlebenden schon in der Gesprächsanbahnung schaffen. Und Vertrauen bekomme ich, wenn ich ab dem ersten Schritt im Interviewprozess die geplante Vorgehensweise und meine Absichten so transparent wie möglich darstelle. Das impliziert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Anerkennung sowie eine offene Kommunikation. Uns Interviewern war klar, dass wir bereits in der Gesprächsanbahnung den Ton für die gesamte Interviewkommunikation etablieren.

Welche Motive gab es für die Interviewzusagen?

Vor allem wollten die Überlebenden ihre Schicksale gegen das Vergessen erzählen, jüngere Generationen zu Mitwissern machen, ihnen vor Augen führen, dass sich so etwas wie der Holocaust niemals wiederholen darf. Und sie wollten mit den Interviews den Millionen Toten des Zweiten Weltkriegs gedenken. Manche sprachen auch von „Pflichtgefühlen“ gegenüber ihren toten Familien. Und auch wenn es absurd klingen mag: Viele waren von schlechtem Gewissen geplagt, überlebt zu haben.

Wem gegenüber?

Viele sind die einzigen in ihren Familien, die den Holocaust überlebt haben. Seit 70 Jahren tragen sie die Frage „Warum ausgerechnet ich?“ als fortwährende Bürde mit sich herum.

Haben die Zeitzeugen diese Frage Ihnen gegenüber so ausgedrückt?

Ich lese mal einige Sätze der 1928 geborenen Ruth Michel vor, die ich leicht glätte. Sie sagte im Interview: „Ich hab das Gefühl, dass das meine Pflicht ist. … Ich hab das Gefühl, ich leb nicht umsonst, ich muss dafür auch was tun. Ich bin verpflichtet für die zu sprechen, die es nicht mehr tun können. … Ich hab sogar eine Zeit lang gedacht – das hab ich auch heut Nacht gedacht – vielleicht leb ich nur deshalb, um das noch zu erzählen.“

„Wir Interviewer sind keine Psychotherapeuten. Deshalb wollten wir emotionale Situationen vermeiden, die wir vielleicht nicht mehr professionell hätten begleiten können. Das galt schon in der Interviewvorbereitung.“

Wie lief die Gesprächsvorbereitung?

Mit Hilfe der Informationen aus den ersten Briefwechseln arbeiteten wir uns in die Lebensgeschichten unserer Interviewpartner ein. Zwei, drei Wochen vor den Interviewterminen, die ungefähr zwei Monate nach dem Erstkontakt waren, telefonierten wir, um offene Personendaten, Ortsnamen, Schicksale bestimmter Angehöriger und weitere Eckdaten zu erfragen. Diese in erster Linie sachdienlichen Vorgespräche hatten auch wieder eine soziale Funktion: Wir konnten uns nun persönlich vorstellen, Wertschätzung und Professionalität mündlich ausdrücken, unsere Stimmen hören und – wir als Interviewer – unsere Sprache anpassen.

Was heißt „unsere Sprache anpassen“?

Viele Interviewpartner sind aufgrund ihres hohen Alters schwerhörig oder sprechen aufgrund ihrer vielen Lebensjahre in den USA oder in Israel nicht mehr so gut deutsch. Da sollte sich ein Interviewer dem Sprachduktus anpassen.

„Heute, im Laufe des Gesprächs, habe ich Kopfschmerzen. … Kopfschwindel, Druck in den Augen, irgendwie sind meine Augen so weit außen.“

Spürten Sie während der Gesprächsvorbereitung Ängste bei den Überlebenden?

Oh ja. Viele waren zum Beispiel unsicher, ob sie ihre Erlebnisse und Gefühle überhaupt ausdrücken können. Manche hatten auch Angst davor, das Erlebte neu zu durchleben. Zum Beispiel sagte der 1934 geborene Harry Likwornik im Interview: „Ich werde verfolgt in alle meine Träume. … Vor dem Interview, ich wusste nicht, was mich erwartet. … Heute, im Laufe des Gesprächs, habe ich Kopfschmerzen. … Kopfschwindel, Druck in den Augen, irgendwie sind meine Augen so weit außen. Und ich habe verschiedene Stiche, eine Menge Ameisen in meinem Gesicht, im Mund und eventuell im ganzen Körper.“

Stiftung Denkmal - Zeitzeugen-Interviews mit Überlebenden des Holocausts
Kfar Shemaryahu, Mai 2012: Aufbauten zum Interview mit dem Holocaust-Überlebenden Uri Chanoch. © Stiftung Denkmal

Konnten Sie die Ängste der Zeitzeugen während der Vorbereitung lindern?

Wir haben es versucht, indem wir den Interviewpartnern von vorn herein klar machten, dass sie es sind, die im Gespräch bestimmen, wie weit sie gehen und was sie erzählen. Zu jeder Zeit wäre ihnen ein Abbruch des Interviews möglich gewesen.

Damit haben Sie von vorn herein ausgeschlossen, intensiv nachzufragen.

Wir haben ausgeschlossen, Druck zu machen. Das wäre ethisch unangemessen gewesen und hätte dazu geführt, dass sich unsere Interviewpartner emotional verschließen. Außerdem sind wir Interviewer keine Psychotherapeuten oder Psychoanalytiker, sondern Sprachwissenschaftler, Historiker und Politologen. Deshalb wollten wir im gesamten Interviewprozess Situationen vermeiden, die wir vielleicht nicht professionell hätten begleiten können. Das war eine Frage des Verantwortungsbewusstseins.

Nach der Gesprächsvorbereitung gibt es im journalistischen Interviewprozess die so genannte Warm-up-Phase, um den Gesprächspartner auf das nun bevorstehende eigentliche Interview einzustimmen. Gab es ein Warm-up auch bei Ihnen?

Ja, vermutlich nur etwas ausgedehnter als im Journalistenalltag: Ein, zwei Tage vor jedem Interview, das in Berlin stattfand, trafen wir uns mit dem jeweiligen Interviewpartner, haben uns von Angesicht zu Angesicht vorgestellt, anschließend eine Führung durch den Ort der Information, die Ausstellung unter dem Holocaust-Denkmal und durch die Räumlichkeiten des Videoarchivs gemacht sowie rechtliche Fragen besprochen. Dadurch haben wir den institutionellen Rahmen und die zukünftige Präsentation des Interviews veranschaulicht. Dabei ging es immer auch darum, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen.

Wo genau haben Sie die Interviews mit den Zeitzeugen geführt?

Mit den Holocaust-Überlebenden, die extra nach Berlin gekommen sind, in einem Raum des Videoarchivs. Wir waren auch mehrmals im Ausland, vor allem in Israel. Außerhalb Berlins haben wir die Interviewpartner via Laptop auf virtuelle Rundgänge durch das Denkmal mitgenommen.

Haben Sie die Gespräche im Ausland bei den Interviewpartnern zu Hause geführt?

Meistens. Einige wenige wollten das jedoch nicht, weshalb wir andere Orte finden mussten. Zum Beispiel durften wir einmal einen Raum in der Jerusalemer Erlöserkirche nutzen.

Kommen wir zur Gesprächsführung im eigentlichen Interview: Wurden Sie dafür geschult?

Insofern, als dass wir uns an Überlegungen orientiert haben, die Eva Lezzi und Cathy Gelbin zur Grundlage des Archivs der Erinnerungen an der Universität Potsdam formuliert haben.

„Insgesamt besteht die entscheidende Rolle der Interviewer weniger im gezielten Abfragen spezifischer Themenkomplexe, sondern in einem empathischen, die Entfaltung der Erzählung ermöglichenden Zuhören.“

Was besagen diese Überlegungen konkret?

Lezzi und Gelbin kombinierten zwei methodische Ansätze – den der therapeutischen Gesprächsführung des Psychoanalytikers und Holocaust-Überlebenden Dori Laub und den Ansatz des biographisch-narrativen Interviews nach der Soziologin Gabriele Rosenthal. Zitat von Lezzi und Gelbin: „Angelehnt an die therapeutische Gesprächsführung stellen die Interviewer ihre Fragen intuitiv, in die Erzählungen der Überlebenden eingebettet, um so direkt oder indirekt angesprochene Themen zu vertiefen bzw. emotional betonte Stellen des Interviews zu begleiten. Insgesamt besteht die entscheidende Rolle der Interviewer also weniger im gezielten Abfragen spezifischer Themenkomplexe, sondern in einem empathischen, die Entfaltung der Erzählung ermöglichenden Zuhören.“ Auf dieser Grundlage haben wir die Vorstellungen und Bedürfnisse der Interviewten einbezogen.

Haben Sie während der Interviews Notizen gemacht?

Nein.

Warum nicht?

Priorität Nummer eins war, auf keinen Fall den Redefluss zu stören. Wir saßen uns gegenüber und haben uns angesehen.

Sie betonen, dass Sie sich angesehen haben.

Weil der Blickkontakt immens wichtig war, um den Interviewten zu zeigen, dass wir genau zuhören, wenn sie Zeugnis ablegen. Das haben wir auch durch bewusstes Nicken und andere lautlose Mimik und Gestik signalisiert.

„Das Interviewen zu zweit hat bei uns gut geklappt, weil es keine Hierarchieunterschiede und persönlichen Animositäten gab.“

Aber wann sind Sie Ihre Fragen losgeworden, wenn Sie als Interviewer so darauf geachtet haben, lautlos zu interagieren?

Wenn wir uns sicher waren, einen guten Augenblick zum Einhaken zu erwischen.

Konnte das nicht eine ganze Weile dauern?

Richtig. Dafür mussten wir uns Nachfragen mitunter lange merken. Alleine dieser Umstand hat zwei Interviewer erfordert. Es gab Interviews, die weitgehend monologisch geprägt waren, aber auch viele, die sehr viele Nachfragen enthielten.

Wenn zwei Journalisten im Team einen Gesprächspartner interviewen, kommen sie sich schon mal in die Quere – zum Beispiel im Hierarchiegerangel oder weil sie undiszipliniert sind. Wie lief das bei Ihnen?

Bei uns hat das Interviewen zu zweit gut geklappt, weil es keine Hierarchieunterschiede und persönlichen Animositäten gab. Das wurde in den Teams vorher explizit thematisiert.

Warum haben Sie nicht zu Dritt interviewt?

Weil es dann für den Interviewten zu schwierig geworden wäre, seine Aufmerksamkeit zu bündeln.

Stiftung Denkmal - Holocaust-Überlebende im Zeitzeugen-Interview
Tel Aviv, November 2013: Christoph Schönborn (l.) und Lennart Bohne (r.) vor Beginn des Interviews mit der Holocaust-Überlebenden Tova Aran, geb. Friedman (Mitte). © Stiftung Denkmal

Haben Sie während der Gespräche mit den Zeitzeugen emotionale Extreme erlebt?

Oh ja. Beispielsweise sind Interviewte wütend geworden, vor allem gegen Ende der Gespräche.

Worüber wütend geworden?

Vor allem über die politische Entwicklung im Nahen Osten, aber auch über den immer noch ausgeprägten Antisemitismus und Rechtsradikalismus in Deutschland.

Haben Interviewte geweint?

Auch das, ja.

„Häufig, vor allem wenn ein Gesprächspartner angefangen hat zu weinen, haben wir die Kamera abgeschaltet und eine Pause eingelegt.“

Wie sind Sie damit umgegangen?

So hart es jetzt auch klingen mag: Es ging uns als Interviewer nicht darum, unsere Gesprächspartner zu bedauern oder deren Leid mit zu durchleiden. Wir waren Zeugen der Zeugen. Aber grundsätzlich zahlt es sich in emotionalen Extremsituationen natürlich aus, wenn sich die Interviewbeteiligten relativ vertraut sind, weil der Interviewer sich und den Gesprächspartner gut vorbereitet hat. Häufig, vor allem wenn ein Gesprächspartner angefangen hat zu weinen, haben wir die Kamera abgeschaltet und eine Pause eingelegt.

Haben Sie weinende Interviewte gefragt, ob sie pausieren möchten oder es selbst entschieden?

Meist haben es die Interviewer intuitiv entschieden. Es gab aber auch Situationen, in denen ein Interviewter längere Zeit unter Tränen mit sich gerungen hat und wir die Kamera laufen ließen, weil wir den Eindruck hatten, dass er sich ohne Pause wieder fängt.

Wie haben Sie solche Schweigephasen erlebt?

Häufig als Kraftakte, die auch wir als Interviewer körperlich spürten.

Das alles klingt so, als hätten Ihnen als Interviewer auch mal die Tränen kommen können.

Mir ist das einmal passiert, ich konnte es jedoch vor dem Interviewten verbergen.

Gab es Zeitzeugen, die ihr Interview abbrechen wollten?

Nein.

„Am Tag nach einem Interview gab es ein Teamgespräch, in dem wir unsere Emotionen nochmals aufarbeiten konnten. Das hat uns sehr geholfen.“

Haben Sie bei sich Nachwirkungen gespürt?

Für mich kann ich sagen: Das Gehörte wirkte bei mir so richtig erst nach den Interviews, weil ich währenddessen quasi sehr auf die Arbeit konzentriert war. Der nachträgliche Umgang mit den Gefühlen der Interviewer war professionell geplant: Zuerst haben wir unmittelbar nach jedem Interview in einer Datenbank dokumentiert, wie es sachlich und emotional verlaufen ist. Da konnte man seinen Gefühlen schon etwas Luft verschaffen. Und am Tag danach gab es ein Teamgespräch, in dem wir unsere Emotionen nochmals aufarbeiten konnten. Das hat uns sehr geholfen.

Das kürzeste Zeitzeugen-Interview dauerte eine Stunde, das längste fast acht Stunden. Wie kam es zu solchen Unterschieden?

Vermutlich lag das an den Motiven der Interviewten. Das längste Interview hat uns Regina Steinitz gegeben, die in Berlin versteckt überlebt hat. Sie hat viele Personen, die in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt haben, und deren Schicksale in ausführlichen Nebensträngen ausführlich gewürdigt.

Wie war es in den kürzeren Interviews?

Da sind die Überlebenden näher an ihren eigenen Lebensgeschichten geblieben und haben sie eher chronologisch erzählt.

Implizieren die unterschiedlichen Interviewlängen unterschiedliche Gesprächsqualitäten?

Auf keinen Fall. Sie zeigen lediglich, dass es unterschiedliche Erzählweisen und Schwerpunkte gab.

Stiftung Denkmal führt Zeitzeugen-Interviews mit Holocaust-Überlebenden
Schomrat, November 2013: Der Holocaust-Überlebende Samuel Givoni, geb. Tibor Salamon (links) mit Christoph Schönborn und Daniel Hübner (r.) bei den Vorbereitungen zum Interview. © Stiftung Denkmal

Bekamen Sie nach den Videointerviews mit den Zeitzeugen Rückmeldungen von den Interviewten?

Sehr oft sogar. Vor allem haben sie unsere schrittweise, transparente und wertschätzende Vorbereitung sowie die professionelle Organisation gelobt. Auch dass die Interviews für die Präsentation in der Ausstellung mit Transkripten, Lebensläufen, Zusammenfassungen und Inhaltsverzeichnissen ausgewertet wurden, hat großen Zuspruch gefunden.

Warum letzteres?

Auf diese Weise können sich die Besucher hinterher den einzelnen Lebensgeschichten auf vielfältige Art nähern. Auch die Einbindung der Interviews in verschiedene pädagogische Angebote der Stiftung fand große Anerkennung.

Was haben Sie persönlich aus dem Projekt mit den Zeitzeugen gelernt?

Die Nationalsozialisten haben rund sechs Millionen Juden systematisch ermordet. Diese Zahl ist gleichermaßen unfassbar und abstrakt. Doch wer von den jüngeren Generationen kann sich diese Zahl schon wirklich vorstellen? Erst bei den konkreten Begegnungen mit Menschen, die den Holocaust überlebt haben, wurde mir persönlich auf eine unheimliche Art bewusst, dass diese Menschen nach dem Willen der Nazis eigentlich hätten tot sein sollen. Doch sie haben überlebt und bringen nun die Kraft auf, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Ich habe es als sehr große Bereicherung empfunden, mit diesen Menschen über ihr Leben sprechen zu dürfen. Gerne möchte ich an dieser Stelle auch auf das Online-Videoarchiv der Stiftung Denkmal aufmerksam machen, wo Interessierte sich einen Großteil der Interviews anhören können.

Herr Bohne, vielen Dank für das Gespräch.

* Mario Müller-Dofel ist Mitinitiator des Wissensportals „Alles über Interviews“.